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Tragende Farben

Titelbild: Musterstücke aus Altpapier, Pigmenten und Wasser – gepresst, teilweise geschliffen, die Farben sind tragfähig. Masterstudent Cengiz Hartmann

Dieser Artikel erschien in der colore 19 #grasgrün

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Die "tragende" Farbe hat, wie eine tragende Wand, eine Schlüsselposition im Farbkonzept. Sie stützt etwas von "unten", sie ist Eckpfeiler, "Säule" für eine elementare Rezeption der Farbe und spielt damit eine grundlegende Rolle im Farbklang. Farben berühren die Sinne, lösen Assoziationen aus und prägen die Emotion, wenn ihre Proportionen ausgewogen sind.

In einer räumlichen Farbkonzeption sollte es Farben geben, die eine oder wechselnde Dominanzen zulassen. Farben, die andere Farben gut zur Wirkung bringen, die dominante Farben aushalten und den Rahmen schaffen für Farbbeziehungen, die den Nutzer aufmerksam werden lassen. Farben, die dem Sehsinn einen spannenden Wahrnehmungsprozess anbieten, der in die Erinnerung einzieht.

"Tragend" sind nicht die dominanten Farben, sondern die aufgehellten, abgedunkelten oder vergrauten Töne, die den Hintergrund bilden für ein lebendiges Farbenspiel. Das können sowohl Rottöne, gelbe als auch blaue Töne sein, aber auch die warmen und kalten Varianten der Grautöne, die Zwischentöne wie Grün, Orange oder Violett.

 

Die Rubrik "Farbbetrachtungen" wird zum zweiten Mal von Prof. Eva Filter, Dozentin an der Detmolder Schule für Innenarchitektur, inhaltlich gestaltet. Das Thema Farbe wird hier stark in den Gestaltungsfokus gerückt und damit zu mehr als nur Akzent oder Dekoration: nämlich zu einem wichtigen Baustein bei der Gestaltung von Gebäuden und Räumen.

 
  • <p>Tafelbilder nach Joh. Vermeer; Studentische Farbstudien im Masterstudiengang 2018; Proportionen und Strukturen von gedämpften Tönen, Ausstellung HS OWL: "In der Farbe wohnt der Raum!", graublau gebeizte hölzerne Flächen tragen die Vielfarbigkeit der Muster</p>

    Tafelbilder nach Joh. Vermeer; Studentische Farbstudien im Masterstudiengang 2018; Proportionen und Strukturen von…

Ein gewisses Quantum an tragenden Farben ist die Basis für jedes künstlerische Farbkonzept. Beispiel: Baut ein Farbkonzept auf dem komplementären Rot-Grün-Kontrast auf und das Rot übernimmt die Rolle des intensiveren Kontrapunktes, dann ist es notwendig, das Grün nicht etwa in gleicher Leuchtkraft zu verwenden, sondern es vergrauter, leiser einzusetzen.

Erst dann bringt es das Rot richtig zum Leuchten. Die Aufmerksamkeit folgt der Faszination, die in dem Gegenspiel zwischen den Komplementärfarben Rot und Grün und den Helligkeitswerten leuchtend und vergraut liegt. Die Farbspannung bleibt spürbar, wird aber zurückgenommen – zugunsten der eindeutigen Farbentscheidung für das Rot.

Ein Nebeneinander von Grundfarben zu gleichen Anteilen erscheint immer sehr bunt, da sie miteinander konkurrieren. Wenn aber die Gewichtungen proportional durch Vergrauung, Aufhellung oder Abdunkelung ausgewogen sind, können farbige Beziehungen in einem Raum aufleben und maßgeblich zur Umsetzung einer konzeptionellen Farbgestaltung beitragen.

Wir nehmen Farben immer im Vergleich wahr, ganz egal ob sie in maximalem Kontrast oder in tragender/dominanter Beziehung zueinander stehen. Ein Blau erscheint leuchtender im Kontrast zu einem Orange, aber auch ein Blaugrau eröffnet schon neben Orange diese komplementäre Wirkung.

Es gibt eine Reihe an Farbkontrasten, die namentlich bekannt – aber hinsichtlich ihrer Wirkung im Raum nicht unbedingt geläufig sind. Es folgt eine Erläuterung der wichtigsten Kontraste, die die Basis bilden für eine stimmungsvolle farbige Gestaltung, die ihre Kraft aus einer bewussten und ausbalancierten Mischung aus tragenden und dominanten Farben zieht.

1. Bunt, laut, kraftvoll

Der Farbe-an-sich-Kontrast ist am stärksten ausgeprägt unter ungetrübter Verwendung der drei Grundfarben in ihrer stärksten Leuchtkraft. Bei gleichen Anteilen entkräften sie sich gegenseitig. Die Stärke des Farbe-an-sich-Kontrastes nimmt aber ab, je mehr man die drei Farben von ihrer Grundordnung entfernt – je schwächer und vergrauter, aufgehellter oder abgedunkelter sie angemischt werden.

Hier wird das Phänomen der tragenden Farbe offenkundig: Häufig gibt es sichtbare Flächen im Raum, die aus vielen farbigen Teilen bestehen: Bücherregale, Geschirrschränke, farbige Sammlungen. Die Trägersysteme und deren Hintergründe benötigen "tragende" Farben, um die Farbvielfalt an Büchern, Geschirr und Stoffen aufzunehmen. Dieser Sachverhalt verlangt eine analytische Erprobung: Manchmal ist ein kühles oder warmes Grau – oder ein Gletscherblau wie die Schattenfarbe von Eis – tragend für die Vielfarbigkeit des Umfelds.

Auch Schwarz und Weiß sind Komponenten für den harmonischen Farbklang der Gesamtkonzeption. Weiß schwächt die Leuchtkraft der Farben und macht sie dunkler, Schwarz steigert die Leuchtkraft und lässt die Nebenfarben heller wirken.

  • <p>Farbe-an-sich-Kontrast. Rot – Blau – Gelb, keine Farbe trägt die anderen</p>

    Farbe-an-sich-Kontrast. Rot – Blau – Gelb, keine Farbe trägt die anderen

  • <p>Rot und Gelb werden vergraut und tragend, Blau bleibt konstant.</p>

    Rot und Gelb werden vergraut und tragend, Blau bleibt konstant.

 

"Nicht die Farbe an sich, nicht ihre Wirklichkeit ist entscheidend, sondern ihre Wirkung. Sage ich von einem Raum, er stimmt mich heiter, fröhlich, festlich, traurig, gemütlich, kühl oder ernst, so sind es vornehmlich die Farben (ihre Anteiligkeit, ihre Verwandtschaft oder ihr Spannungsfeld), die mir solche Eindrücke vermitteln."

aus Johannes Itten: Kunst der Farbe

 

2. Von Farben und ihren Grautönen

Der stärkste Ausdruck für den HellDunkel-Kontrast sind Schwarz und Weiß. In Ittens Farbkreis tauchen Schwarz und Weiß übrigens gar nicht auf. Aus diesem Grund wird oft behauptet, dass Schwarz und Weiß keine Farben seien. Die Praxis zeigt uns allerdings etwas ganz anderes.

Sowohl Schwarz als auch Weiß werden dazu verwendet, Farben abzudunkeln bzw. aufzuhellen und ihnen die Intensität zu nehmen und gleichzeitig die Kraft zu geben, eine tragende Farbe zu werden. Durch Verschieben der Mengenverhältnisse der Farben wirken unterschiedlichste Ausdrucksmöglichkeiten wie räumliche Phänomene: Gleiche Helligkeit oder gleiche Dunkelheit machen die Farben verwandt.

Farben werden durch gleiche Tonwerte aneinander gebunden und zusammengefasst. Durch Zusatz von Weiß entstehen Pastelltöne, die duftiger, leichter, zarter und kühler wirken als die reinen Farben. Das alles ist gestalterisch im Farbkonzept als Mittel einsatzfähig.

  • <p>Hell-Dunkel-Kontrast in Blau. Das hellere Blau trägt das intensivere dunklere</p>

    Hell-Dunkel-Kontrast in Blau. Das hellere Blau trägt das intensivere dunklere

  • <p>Das gemischte Grau aus Rot und Grün erscheint rötlich braun und trägt das leuchtendere Blau.</p>

    Das gemischte Grau aus Rot und Grün erscheint rötlich braun und trägt das leuchtendere Blau.

Wenn Grau den Nachbarfarben gewogen ist

Grau schwächt die Kraft seiner Nachbarfarbe und besänftigt sie. Es saugt die Kraft der Nachbarfarbe auf und wird durch das Phänomen des Simultankontrastes, bei dem es sich um einen rein physiologischen Korrekturvorgang des Sehorgans handelt, zur komplementären Ergänzung.

Grau erhält durch seine Nachbarfarben Charakter und Leben, ist sehr leicht beeinflussbar und zu herrlichen Tönen zu erregen, die es als tragende Farbe im Gesamtbild zu etwas sehr Besonderem machen. Es kann durch jede beliebige Farbe aus seinem neutralen Zustand verwandelt werden, indem eine erregende Farbe die entsprechende komplementäre Farbwirkung erzielt. Dabei wird das Grau so beeinflusst, dass es wie die komplementäre Farbe erscheint.

Eine solche simultane Wirkung kommt aber nicht nur zur Auslösung zwischen einem Grau und einer reinen Farbe, sondern auch zwischen reinen Farben, die nicht genau komplementär sind. Jede der beiden Farben sucht die andere in ihren komplementären Wert zu drängen – und meistens verlieren beide ihren Wirklichkeitscharakter und leuchten in neuen Farbwirkungen.

3. Wenn Farbe Temperatur erzeugt

Eine genaue Festlegung von warmen und kalten Tönen ist irreführend, weil jede Farbe, je nach ihrer Kontrastierung, mit helleren oder dunkleren Tönen warm oder kalt wirken kann. Erscheint Oliv neben Orange, wird Oliv eher als kalt empfunden. Oliv neben Flaschengrün wird warm gedeutet. Der optische Empfindungsbereich der Farben bringt immer auch ein Temperaturempfinden mit sich.

Die polare Kraft des Kontrastes schwingt zwischen Türkis und Oliv, zwischen Pink und Kadmiumrot, zwischen Ultramarin und Violett, zwischen Limonengelb und Sonnenblumengelb. Das gleiche Violett wirkt mal warm und mal kalt, weil die daneben platzierten Farben wärmer oder kälter sind. Violett neben Viridiangrün wirkt warm, neben Mauve wirkt es kalt. Kalte Farben wirken durchsichtig, leicht, sie werden meist zu hell verwendet. Warme Farben werden oft wegen ihrer Undurchsichtigkeit zu dunkel gewählt.

Grau wird im Warm-Kalt-Kontrast zur tragenden Farbe, weil es in der simultanen Wirkung zu einer reinen Farbe diese beruhigt und trotzdem die Farbspannung für unsere Augen (zwischen Grau und der reinen Farbe) erhält. Grau ermöglicht in seiner Stellung als tragende Farbe auch den Einsatz von leuchtenderen Farben im Raum.

  • <p>Kalt-Warm-Kontrast. Oliv/Grasgrün und Türkis/Grasgrün wird umgeben von vergrautem Rot als Trägerfarbe, darin leuchtet auch das Komplementäre, es ist ein Spiel mit den Kontrasten und der implantierten Raum-im-Raum-Idee.</p>

    Kalt-Warm-Kontrast. Oliv/Grasgrün und Türkis/Grasgrün wird umgeben von vergrautem Rot als Trägerfarbe, darin leuchtet…

4. Sie stehen sich kontrastreich gegenüber ...

... und werden im Raum zu einem unerträglichen Nebeneinander. Im Farbkreis wird deutlich: Gelb, die hellste Farbe, ist oben, Violett, die dunkelste, liegt unten. Zwischen diesen beiden Farben besteht der stärkste Hell-Dunkel-Kontrast: Rotorange und Blaugrün. Komplementäre Farben ergeben zusammengemischt immer ein neutrales Grauschwarz. Komplementäre Farben verhalten sich seltsam: Sie sind entgegengesetzt, steigern sich zu höchster Leuchtkraft im Nebeneinander und vernichten sich in der Mischung zu Grau wie Feuer und Wasser.

Das Vergrauen beispielsweise von Rot mit dem komplementären Grün und von Grün mit dem komplementären Rot ermöglicht ein tragfähiges Farbkonzept. Komplementärfarben stehen untereinander in einem Spannungs- und Ergänzungsverhältnis, Rot gewinnt durch die Gegensatzwirkung an Ausdruckskraft, wenn es von Grün umgeben ist. Grün entfaltet seine Pracht auf rotem Hintergrund.

Das Komplementärgesetz ist die Grundlage harmonischer Gestaltung, weil im Entgegengesetzten eine ganzheitliche Harmonie der Farben entsteht, ein vollkommenes Gleichgewicht im Auge. Das ist das Ziel unseres Farbensinnes. Der harte absolute Rot/Grün-Einsatz ist im Raum kaum nutzbar, erst die vergrauten komplementären Farben erzielen darin eine räumliche Harmonie.

In der Malerei von Delacroix steht die Farbigkeit des Schattens immer in der komplementären Farbe: die gelbe Kutsche vor violettem Schatten, allerdings beide vergraut und somit spannungsvoll. Nutzen Sie den komplementären Kontrast in diesem Sinne räumlich.

Entscheiden Sie aus der sinnvollen Nutzung und den architektonischen Gegebenheiten, welche der Farben die dominante sein soll, und begegnen Sie ihr nicht mit einem vergrauten Schwarz, sondern der vergrauten Komplementärfarbe.

  • <p>Komplementärkontrast. In den verschiedenen Raumbereichen leuchtet mal das Rot und dann das Grün auf, sie sind weit genug voneinander entfernt, sodass sie sich nicht mit ihrer Leuchtkraft vernichten. Das Rot ist umgeben von aufgehellten, vergrauten Grüntönen, das Grün von vergrauten erdigen Rottönen.</p>

    Komplementärkontrast. In den verschiedenen Raumbereichen leuchtet mal das Rot und dann das Grün auf, sie sind weit genug…

Die weiteren Kontraste wirken weniger in ihrer tragenden als eher in ihrer proportionalen Eigenschaft:

Der Qualitätskontrast beschreibt den Reinheits- und Sättigungsgrad der Farben, das Verhältnis von gesättigten leuchtenden Farben zu stumpfen, getrübten Farben. Aufgehellte oder abgedunkelte Farben verlieren an Leuchtkraft, gewinnen aber an tragender Einsatzfähigkeit im Raumkontext.

Der Quantitätskontrast zeigt Mengenverhältnisse der Farben zueinander und ist im eigentlichen Sinne ein Proportionskontrast. Bei Rot in geringer Menge zum Grün zum Beispiel wirkt die in Minderheit versetzte Farbe leuchtender, als wenn sie in gleicher Menge vorhanden ist. Dabei wird die sie umgebende Farbe zur tragenden Farbe (in diesem Fall das Grün). Leuchtkraft, Reinheit, Beimischungen und Quantität entscheiden über die Wirkung der Farbe im Raum.

Schließlich: In all den Kontrasten und ihren Beispielen wird die unterschiedliche Wirkung von Farbe je nach Einsatz und Umgang deutlich. Trauen Sie sich also, zu den vergrauten Tönen zu greifen, und beobachten Sie die Wirkung mit den Umgebungsfarben, spielen Sie mit der Wirkung von Kontrasten, um räumliche Farbkompositionen zur Vollendung zu bringen und einzigartige Farbräume zu schaffen.

Die Farbe weiß

Die Farbe weiß

Hell, klar und leicht – wie die Farbe weiß wirkt und was sie symbolisiert.


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