Fotos: Jens Weber und Orla Connolly
Dieser Artikel erschien in der colore #himmelblau
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Hohe, gemaserte Holzlamellen ragen auf langer Strecke gen Himmel, bevor sie einen Knick machen – und nach kurzer Zeit wieder einen. Einige Meter an einem Schrebergarten vorbei, ein Blick ums Eck ... und ein großes, strahlend himmelblaues Gebäude tut sich auf, das den großzügigen Innenhof innig umarmt – wie ein aufgebrochener Edelstein, der erst im Kern seine Schönheit nach außen trägt.
Der Neubau des Wertstoffhofs und Reinigungsdepots Nord in Augsburg wurde von dem Architekturbüro Knerer und Lang entworfen, die den verschiedenen Funktionen einen passenden Rahmen gaben und für die zahlreichen Mitarbeiter eine kontrastierende Bühne kreierten.
Objekt | Standort: Wertstoffhof Augsburg
Architekt: Knerer und Lang Architekten, München
Prof. Thomas Knerer
Dipl.-Ing. Eva Maria Lang
Fotografie: Jens Weber und Orla Connolly
Olympiablau – eine Farbe, die eine ganz besondere Herkunft, also eine Geschichte hat und die mit ihrer Präsenz und gleichzeitigen Leichtigkeit die volle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Geprägt wurde der himmelblaue Farbton von dem Künstler und Leiter der Hochschule für Gestaltung (HfG) in Ulm, Otl Aicher, der im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in München 1972 unter anderem ein Wegweisersystem aus Piktogrammen entwickelte.
Die vorherrschende Farbe: ein strahlendes Blau. Auch in Broschüren und Flyern, die im Zusammenhang mit den Olympischen Spielen standen, tauchte der Blauton immer wieder auf. Aicher wollte für die Gestaltung eine Farbe, die unpathetisch ist, luftig statt schwer. So wurde das Olympiablau zur charakteristischen Farbe dieses Sportereignisses und erhielt dadurch seinen sinnbildlichen Namen.
Die Eigenschaften dieses besonderen Blaus machten sich auch die Architekten von Knerer und Lang zunutze, indem sie die Hoffassade des Wertstoffhofs in Augsburg in genau diesem Olympiablau gestalteten. Doch nicht nur die Farbe an sich weist eine Verbindung zu den Olympischen Spielen auf, auch die Stadt Augsburg ist mit diesem Ereignis verbunden, denn sie war einst selbst Austragungsort des Kanuslaloms 1972.
Und obwohl dies schon Grund genug wäre, sich für diesen Farbton zu entscheiden, betrachteten die Architekten die Farbwahl aus einer ganz anderen Richtung: Tagtäglich bewegen sich Mitarbeiter des Wertstoffhofs über das Gelände, ihre unverkennbare orangefarbene Arbeitskleidung ist auffällig, knallig und kräftig. Und da die Arbeit dieser Mitarbeiter im Vordergrund steht, "haben wir eine Farbe gewählt, die den größten Kontrast zu Orange darstellt", erklärte der Architekt und Professor Thomas Knerer im persönlichen Gespräch. Es sollte eine Farbe sein, die die Mitarbeiter und ihre Arbeit würdigt, sie hervorhebt und nicht untergehen lässt. Orange und Blau wirken jeweils für sich, gleichzeitig verstärken sie die Kraft des anderen, sind lebhaft und stehen eben im perfekten Kontrast zueinander. "Wir möchten das Klischee widerlegen, dass moderne Architektur immer weiß oder grau sein sollte – denn auch Farbe bietet einzigartige Möglichkeiten."
Wir benutzen Farbe, um Identität zu stiften.
Prof. Thomas Knerer
Während im Innern des Wertstoffhofs und Reinigungsdepots Nord starke Farben konkurrieren und gemeinsam ein lebhaftes Kunstwerk erzeugen, bettet sich das Gebäude von außen betrachtet ganz sanft in seine Umgebung und scheint mit dieser sogar zu verschmelzen.
Wie ein hölzerner Lattenzaun verläuft die vertikale Holzlamellenfassade der Außenhaut um das Gebäude und verleiht ihm ein natürliches Erscheinungsbild, das auf den ersten Blick die innere ausgelassene Farbigkeit nicht einmal erahnen lässt. Eingerahmt von einer Schrebergartenanlage, einer Straße, der Autobahn sowie einem Schützenverein präsentiert sich der Wertstoffhof stolz und zugleich bescheiden seinen Nutzern und Mitarbeitern.
"Eine große Herausforderung bei der Konzeption des Gebäudes bestand darin, die vielen unterschiedlichen Funktionseinheiten sinnbildlich 'unter ein Dach' zu bringen: sei es die Verwaltung, die Fahrzeughallen, Magazine, Containerstellplätze sowie die Salzhalle", erzählte uns der Architekt. Die Straßenmeisterei befindet sich ebenfalls als separates Gebäude auf dem Gelände – eng verwoben mit dem Wertstoffhof.
Die skulpturale und sehr ästhetische Form des Gebäudes ist nicht aus einem bewussten kreativen Schaffensmoment heraus entstanden, sondern ganz bodenständig aus der Funktion heraus. Damit Autos und Container auf dem Grundstück frei bewegt und rangiert werden können, wurden die verschiedenen Elemente so platziert, dass sich ein weitläufiger Innenhof bildet. Außerdem hat jedes Gebäude spezielle Anforderungen, die architektonisch umgesetzt und erfüllt wurden.
"Die Gebäudeteile sind genauso hoch, wie sie sein müssen – nicht höher, nicht niedriger. Am Ende haben wir dann alles mit einem geraden Strich verbunden" so Knerer. Aus dieser pragmatischen funktionalen Anordnung hat sich eine Form ergeben, die mit der Ästhetik eines Kunstwerks gleichzusetzen ist. Doch nicht nur diese abstrakte Form verleiht dem Wertstoffhof seinen Charakter.
Besonders die Farbe, das starke Olympiablau, leistet genau das Gleiche: Sie fasst und hält die unterschiedlichen Funktionen unter ihrem ausdrucksstarken Mantel kontinuierlich zusammen und dient als die alles umfassende Überschrift der Architektur. Durch ihre Stärke überdeckt sie gekonnt Öffnungen, Türen und Tore an Stellen, die zwar dem Nutzen dienlich sind, aber zum Teil nicht der gängigen Architekturästhetik entsprechen. Auch unregelmäßige Proportionen ziehen sich zurück und verstecken sich hinter dem blauen Gewand.
Wir haben uns für eine Farbe entschieden, die den größten Kontrast zu Orange darstellt.
Prof. Thomas Knerer
Besonders die Mitarbeiter zeigten ihre Begeisterung für die mutige Farbauswahl ihres neuen Arbeitsumfeldes. Bei einer Fotodokumentation, die Knerer und Lang Architekten immer nach Fertigstellung ihrer Projekte durchführen, sind einzigartige, persönliche, fröhliche und farbige Aufnahmen entstanden. Denn dieses Mal war neben einem Architekturfotografen auch eine Personenfotografin vor Ort, die die Mitarbeiter vor der blauen Bühne ablichtete. Sie posierten in ganz alltäglicher Manier und es entstanden Fotos, die an Ehrlichkeit kaum zu überbieten sind und ihre Arbeit sowie ihre Persönlichkeiten aus dem Schatten ins Licht rücken.
Diese Fotos zeigen, wie sehr sich die Mitarbeiter des Wertstoffhofes bereits mit der Farbe verbunden fühlen – und so soll es schließlich auch sein, denn: "Wir benutzen Farbe, um Identität zu stiften", erklärt Thomas Knerer. Generell entsteht der Eindruck, dass die Mitarbeiter einen starken Zusammenhalt haben und den Wert ihrer Arbeit zu schätzen wissen. Sie haben sich eine eigene Arbeitskultur geschaffen, indem sie als Ausgleich gemeinsam Yoga machen oder kochen. Thomas Knerer schlussfolgert: "Also haben wir einen großzügigen Yogaraum in das Konzept integriert, denn diese besondere Arbeitskultur haben sie schon vor dem Bau des Gebäudes ausgebildet. Unsere Aufgabe bestand darin, einen passenden Rahmen dafür zu schaffen."
Was jedoch wirklich praktisch ist, stellt sich erst im Alltag heraus. Samstags spielt sich auf dem Wertstoffhof dadurch eine feste Choreographie ab, wenn die Autokarawanen auf das Gelände fahren und ihren privaten Sperrmüll entsorgen möchten. Der eine fährt links, der andere rechts, bis wo kann ich vorfahren, wo muss ich hin? So wurden unter anderem verschiedenste Markierungen erst nach einiger Zeit gezogen, denn es musste zuerst getestet und ausprobiert werden – die Mitarbeiter waren dadurch zum Teil selbst an der Gestaltung des Hofes beteiligt, was von großem Nutzen war.
Generell arbeiten die Architekten sehr bodenständig, zweckmäßig und gerne analog statt digital – besonders wenn es um die Wahl der richtigen Materialien oder der Farbe geht. Das haptische Gefühl, die Wirkung in der Sonne oder im Schatten sowie das Zusammenspiel mit anderen Materialien und Farben sind wichtige Entscheidungskriterien, die nur vor Ort optimal zur Geltung kommen. "Farben oder Farbflächen setzen wir ganz bewusst als gestaltbildend ein, denn Farbe stiftet Identität und lässt Raum zur Interpretation", sagt Thomas Knerer.
Das Architekturbüro arbeitet gerne mit Kontrasten und verwendet Farbe dort, wo sie einerseits präsent ist, andererseits aber auch die Möglichkeit zum Rückzug bietet und weder einengt noch unausweichlich scheint. Auch der Wertstoffhof in Augsburg präsentiert sich einseitig in einem hellen Olympiablau, auf der anderen Seite jedoch in Holz und mit zurückhaltenden Innenräumen – ein Konzept, das kräftige Farbigkeit mit natürlichen Materialien auf besondere Weise vereint. Der Architekt bezeichnet Blau als seine Lieblingsfarbe – egal in welcher Nuance, ob kräftig oder sanft, tiefblau wie das Meer oder strahlend wie der Himmel.
"Im Bereich der Architektur hängt die Farbwahl jedoch nicht nur vom persönlichen Geschmack ab, sondern besonders von dem Ort, an dem das Gebäude steht, seiner Funktion sowie den Materialien, mit denen die Farbe eventuell im Kontrast steht." Neben dem Olympiablau standen zu Beginn des Bauprojekts auch noch die Farben Gelb und Lila zur Auswahl, doch das Blau konnte besonders aufgrund seines kontrastierenden Verhältnisses zum Orange überzeugen – und das zu Recht, denn "Gegensätze ziehen sich an – auch in der Architektur".
Die Architekten
Eva Maria Lang und Prof. Thomas Knerer gründeten das Architekturbüro Knerer und Lang 1993 in Dresden. Ihre Projekte überraschen durch skulpturale Prägnanz, ihre charakteristische Farbigkeit und disziplinierte Details. Sie planen intuitiv und konzeptionell, schöpfen aus Erfahrung und persönlicher Intuition.
Foto: Christoph Reichelt
Die Fotografen
Jens Weber und Orla Connolly nehmen ihre Aufträge meistens im Doppelpack wahr. Er als Architekturfotograf, sie als Porträtfotografin. Denn überall, wo Architektur gebaut und schließlich bildlich dokumentiert wird, sind auch Menschen, die arbeiten, bewohnen, nutzen und gebrauchen. Und die Architektur soll ja genau ihnen dienen. Daher ist eine Darstellung der puren Architektur allein aus ihrer Sicht unvollständig. Während Jens Weber den Ort genaustens inspiziert, eine Komposition aus Bildausschnitt und Lichtstimmung erstellt, spricht Orla Connolly mit den Protagonisten und lässt sie in ihren Bildern unverstellt und authentisch zu Wort kommen – ohne Worte.
Websites: www.jensweber.net / www.orlaconnolly.com