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Ich bin der Himmel

Dieser Artikel erschien in der colore 20 #himmelblau

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Prof. Eva Filter, Dozentin an der Detmolder Schule für Innenarchitektur, widmet sich diesmal innerhalb der Rubrik "Farbbetrachtungen" dem Thema Raumgliederung. Welches Potenzial birgt das Einbringen eines ganzheitlichen Farbkonzeptes innerhalb des Gestaltungsprozesses? Anhand von acht Phänomenen erläutert die Expertin verschiedene Ansätze.

 

Ein Kolibri kam unverwandelt in die Gattung der Träume hinein, sah sich um, sah die dort vorhandenen Menschen, malte seine Flügel blau und sagte zu den Zweibeinigen: ich bin der Himmel. Die Farbe sprach dafür. [...[

aus: "Ein Kolibri kam unverwandelt" von Marica Bodrožić

 

Der Ausschnitt aus dem zauberhaften Gedicht der gerade sehr aktuell diskutierten Marica Bodrožić beschreibt das illusionäre Himmelblau. Wer an einem Sommertag das Blau des Himmels genauer beobachtet, sieht es am Horizont heller und lichter als direkt über ihm – und über dem Grün des Waldes am tiefsten und strahlendsten.

Der Mensch nimmt Raum – und damit einhergehend auch Farbe – wahr, indem er Kopf und Augen und den ganzen Körper immerfort bewegt und in diesem Prozess immer andere Erscheinungen hat: Fern- oder Naherscheinungen, Vorn- oder Hintenerscheinungen.

(s. Edmund Husserl aus: Grundprobleme der Phänomenologie, Text 6)

  • <p>Wohnzonen/Handlungsorte: Gliederung im Grundriss</p>

    Wohnzonen/Handlungsorte: Gliederung im Grundriss

Raumwirkungen durch Zonierungen

Um sich dem Thema der Gliederung von Räumen zu nähern, helfen Fragen wie: "Welche Raumwirkungen sind mit einer Aufteilung der Flächen im Raum oder einer Gliederung durch Raumlinien möglich?" und "Was kann der Gestalter darin essenziell mit dem Mittel Farbe bewirken?"

Die Aufteilung eines Raumes geschieht in erster Linie im Grundriss durch die Anordnung verschiedener Handlungsorte, es entstehen Zonen, raummittige Orte, Bereiche am Fenster, Bezugspunkte vor einer Wand, Plätze am Rande. Dazwischen liegen die Bewegungs- oder Gangzonen: in den Raum hineinkommen, von der Tür zum Fenster gehen etc. Störend werden diese Bereiche empfunden, wenn sie beispielsweise die Beziehung zwischen Sitzplatz und Fenster oder Sitzplatz und Kamin durchkreuzen.

Plätze des Wohnens wie Arbeiten, Essen, Kochen, Schlafen, Reinigen und Entspannen werden durch flächige und lineare Gliederungen strukturiert. Hier geschieht die Grundrissanordnung nach organisatorischen Gesichtspunkten: in Sinnabschnitten oder einer Aufteilung des Gesamtraumes in mehrere strukturelle Teile.

  • <p>Kind im Erwachsenenraum</p>

    Kind im Erwachsenenraum

  • <p>Auflage des Ellenbogens | Greifhöhe im Sitzen | Stützhöhe der Hand im Stehen | Höhe der Hand im Sitzen</p>

    Auflage des Ellenbogens | Greifhöhe im Sitzen | Stützhöhe der Hand im Stehen | Höhe der Hand im Sitzen

Mensch als Maßstab

Die Gliederung von Boden, Wand, Decke ist gestalterisches Konzept und orientiert sich manchmal an den Handlungsorten, oft wird der Raum aber auch atmosphärisch als Ganzes gegliedert. Höhenlinien bilden dabei den Rahmen für ein Ordnungsgefüge, in dem wir uns bewegen und das wir als Maßstab für unsere eigene Körpergröße empfinden.

Zwei Gedankenspiele verdeutlichen das: Wie empfindet wohl ein Kind von sechs Jahren unsere Wohnräume und welche Orte schafft es sich, um darin dem eigenen Maßstab zu entsprechen? Denke man an das Budenbauen, zwischen zwei Stühlen oder unter dem Tisch, in einem Schrank, agieren mit Tüchern und Decken.

Geht man in Gedanken eine Treppe hinauf, dann verschieben sich die horizontalen Bezugslinien, da nur das Brüstungselement den eigenen Maßstab begleitet. In solchen Grenzwahrnehmungen wird die Abhängigkeit der eigenen Körperrelationen zum umgebenden Raum entdeckt.

  • <p>Funktionshorizonte</p>

    Funktionshorizonte

Horizonte in der Raumwahrnehmung

Die Höhenlinien werden als Horizonte bezeichnet. Sie bilden die Primärstruktur eines Raumes: Architektonische Horizonte wie Brüstungs-, Fenster- und Türhöhen, Höhen der Fußleisten, der Heizkörper, der Nischen, Möbel und Einbauten ...

Alles, was waagerechte Linien im Raum verursacht und Bezug zur Größe des Menschen herstellt, bildet die Raumproportion. Dann sind da die Funktionshorizonte bezogen auf den menschlichen Körper: Körpergröße, Augenhöhe, Greifhöhe, Sitzhöhe, Höhe der Hände, der Knie. Diese Horizonte bestimmen die Relation zwischen Mensch und Raum, sind Maßstab für den Nutzer. So empfindet sich ein 1,60 m großer Mensch erhaben über einem Wandsockel von ca. 1 m und über einer Raumlinie bis ca. 1,40 m. Größere oder kleinere Menschen haben andere Augenhöhen, sodass für ihr Raumempfinden der Horizont einen Spielraum von ca. 20 cm hat.

Für die Bestimmung eines Farbfeldes ist das eine wesentliche Erkenntnis. Flächig oder linear geschaffene Raumlinien oberhalb des Fußbodens geben ein Gefühl, sich in einer Wanne zu befinden, Raumlinien unterhalb des Deckenbereichs fördern das Empfinden einer Haube oder Kappe.

  • <p>Architektonische Horizonte: Blickpunkt vom Fenster</p>

    Architektonische Horizonte: Blickpunkt vom Fenster

Individuelle Wirkung von Farben

Wenn Farbe bewusst in einem Raum eingesetzt wird, ist sie ein Mittel der Raumgliederung. Farbe kann an Boden, Wand oder Decke Zonen bestimmter Aktivitäten zusammenziehen bzw. separieren. Farbzonen können sinnstiftend gliedern. Wenn kein Maßstab im Raum zu finden ist, zu dem die eigene Person in Beziehung gesetzt werden kann, wird der Raum bezugslos. Mit der Wahl der Farbe kann eine Raumillusion der Bildtiefe entstehen. Johannes Itten beschreibt die warmen, reinbunten und hellen Farben als die in den Vordergrund drängenden, die kalten, dunklen und gebrochenen Farben als in den Hintergrund tretende. Blau ist eine Farbe der Ferne, je heller das Blau, desto mehr kommt das bemalte Element nach vorn, ein tiefdunkles Indigoblau tritt in den Hintergrund.

Johannes Itten malt in seiner Variation III von 1957 eine violette Fläche auf hellgrünem Hintergrund, und selbst wenn Grün und Violett hier die gleiche Helligkeit haben, wirkt die scheinbare räumliche Distanz unterschiedlich: Das wärmere Violett in Relation zum Grün kommt nach vorn.

Johann Wolfgang von Goethe setzte die Perspektivwirkung von Farbe in seinem Haus in Weimar ein. In der Aneinanderreihung von Räumen zu einer Zimmerflucht entstand eine Enfilade: hintereinandergeschaltete Räume mit unterschiedlichen Farben, die durch die exakt gegenüber platzierten Türöffnungen erfahrbar werden. Goethe nutzte unterschiedliche Farbigkeiten, um die Erfahrung einer Tiefenwirkung zu verstärken, aber auch um weit hinten liegende Räume optisch nach vorn zu holen.

Richard Neutra fand in Versuchen heraus, dass die Gestaltung des visuellen Umfeldes durch ein Gleichgewicht der Helligkeitskontraste, bessere Lichtführung und den Einsatz von Farbe verbessert wird und dass sie auch positive Auswirkungen auf Krankheitssymptome zur Folge hat.

Eine kleine Phänomenologie zur Raumgliederung (in Blau) und daraus entwickelte Farbkonzepte:

Einheitlicher Auftrag einer einzigen Farbe im gesamten Raum

Wirkung: Auch bei homogenem Farbauftrag lebt der Raum mit dem Einfall des Tageslichts auf, Flächen im Gegenlicht wirken dunkler, an den Raumkanten ist der Raum verschatteter als in der Fläche, trotzdem überwiegt das homogene Blau. Jedes hineingestellte Möbel birgt die Chance der Inszenierung: hellblauer Sessel tarnt sich – weißer Sessel sticht hervor, wird zur Skulptur.

Einheitlicher Auftrag einer Farbe auf einer ganzen Raumfläche von Raumkante zu Raumkante

Wirkung: Die Sichtweise der Raumkonstruktion wird verstärkt, die Kanten des Raumes werden formgebend. Die Wandflächen bilden ein Gegenüber.

Farbiges Absetzen von Raumnischen

Wirkung: Die perspektivisch anmutende Nische wird mal durch vollflächig farbige Wandfelder zu einem U, mal entsteht eine Beziehung zwischen der bandartigen Umrahmung der Nische zu dem oberen Fries. Die Raumgliederung der farbigen Wandfelder ermöglicht Variationen.

Einsatz einer Farbe mit unterschiedlichen Sättigungs-/Helligkeitsgraden in einem Raum

Wirkung: Je nach Farbcharakter perspektivisch verstärkend/verfremdend. Helle und warme Farbtöne auf Flächen scheinen sich visuell in den Vordergrund zu spielen, dunkle und kalte bleiben im Hintergrund.

Einsatz von Farbe über Raumlinien hinweg

Wirkung: Farbige Flächen, die Raum­kanten übergehen, ermöglichen neue Flächengliederungen. Es entsteht eine Freiheit vom konstruktiven Raum. Flächen und Bereiche werden zu optisch neuen Raumgebilden zusammengezogen.

Einsatz von Farbe zur Orientierung

Wirkung: Farbige Flächen können Wege, Zonen, Sichtachsen markieren. Sie können auch Signalwirkung haben: Parallelogramme beispielsweise oder spitzwinklige Formen können Zeigefunktionen bewirken.

Farbige Flächen folgen dem Licht

Wirkung: Farbflächen werden so angeordnet, dass sie in der Vertikalen und Horizontalen dem Lichteinfall entsprechen. Dieser wird dadurch betont, gewinnt an Bedeutung, gestaltet nicht nur temporär und bei Tage, sondern kontinuierlich.

Verschiedenfarbige Flächen treffen an Raumkanten aufeinander

Wirkung: Farbflächen werden so zu einer abstrakten Farbplastik. Das Aufeinandertreffen verschiedener Farben an der Körperkante bewirkt die optische Auflösung der plastischen Form.

Durch Farbflächen im Raum entstehen Festlegungen, durch die eine individuelle Haltung sichtbar wird. Farbkonzeptionen können das Weiche mit dem Harten, das Fertige mit dem Provisorischen, das Edle mit dem Armseligen versöhnen und bieten damit ungeheure Freiheiten im Entwurf.

Das Wesen der Farbe ist maßlos und ausschweifend. Umso wichtiger ist der konzeptionelle Gebrauch von Farbe. Sie zählt zu den leicht veränderbaren Gestaltungsmitteln eines Raumes, sie hat einen labilen Charakter, weil ihre Wirkung abhängig ist von den benachbarten Farben. Sie ist austauschbar, nuancenreich und unter Umständen charakterschwach.

Farben und Farbwirkungen sind eher der phänomenologischen Sichtweise zuzuordnen als der rationalen Erkenntnis. Phänomene lassen sich beobachten, wahrnehmen und erspüren, sie erscheinen und zeigen sich den Sinnen. Farben sind einem künstlerischen Prozess der Proportionierung im Raum und ihrer räumlichen Gewichtung unterworfen.

Tragende Farben

Tragende Farben

Die "tragende" Farbe hat, wie eine tragende Wand, eine Schlüsselposition im Farbkonzept.

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