Titelfoto: Amit Geron
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Standardisierte Kette oder individuelle Herberge mit Familienanschluss,Instagram-taugliche Designkulisse oder geborgenes Zuhause-Gefühl? Das Hotel erfindet sich immer wieder neu. Eigenwillige Konzepte jenseits von Grand Hotel und Low-Budget zeigen neue Wege und bekennen sich eindeutig zu mehr Farbe – in jeder Hinsicht.
Berlin, Kopenhagen, Stockholm, London, Paris und Wien, aber auch Orte jenseits der Metropolen entwickeln sich zu spannenden Reisezielen. Architektonisch erfordern die Destinationen von ihren Unterkünften immer wieder neue, kreative Lösungen jenseits des Standards. Dabei geht es einerseits darum, sich als Hotelmarke von der Konkurrenz – darunter vor allem die Plattform Airbnb – mit einem eindeutigen USP abzuheben, andererseits soll bei den Gästen Sehnsucht geweckt werden. Das "komfortable Zimmer mit Frühstück und Blick" auf das städtische Highlight hat ausgedient. Übernachten soll heute ein unverwechselbares Erlebnis sein.
Die Liste vielversprechender Vorreiter, die sich mit neuen Ideen hervortun, wächst insbesondere mit Blick auf den nationalen und den europäischen Markt. Architekt und Designer John Pawson ist es 2017 in Tel Aviv-Jaffa gelungen, in Kooperation mit Ramy Gill ein ehemaliges französisches Krankenhaus mit Kloster in das zeitgemäße Luxushotel "The Jaffa" zu verwandeln und damit Gäste aus aller Welt zu verzaubern. Sein Konzept für die New Yorker Hotelgruppe RFR Holding verbindet Tradition, Moderne und Minimalismus, gleichzeitig bringt das 120-Zimmer-Hotel als Ruhepol eine stille Eleganz in das bunte Tel Aviv. Nacktes Natursteinmauerwerk, historische Bausubstanz wie Stuck und Buntglasfenster sowie die von Hand bemalten Kreuzgewölbe treffen auf eine bunt gemischte, wohlkuratierte Auswahl von internationalen Designermöbeln.
Ergänzt wird der U-förmige Bestand durch einen dreigliedrigen Anbau. Features wie eine Backgammon-Lounge mit Tischen, die Pawson eigens für "The Jaffa" entworfen hat, verorten das Boutique-Hotel in seinem Kontext und unterstreichen seinen authentischen Charakter, der so präsent auftritt, dass dem Gast kaum auffallen wird, wer hier eigentlich der Gastgeber ist: Betrieben wird das Haus nicht etwa von einer hiesigen Hotelfamilie, sondern von der internationalen Marriott Luxury Collection.
Wollte John Pawson mit seinem Entwurf eine "kraftvolle neue räumliche Erzählung schaffen, die mit Atmosphäre und Gefühl für den Ort aufgeladen wird", nennt auch Werner Aisslinger Storytelling als entscheidendes Instrument für die Gestaltung seiner Hotelwelten. "Es geht nicht darum, dass wir etwas entwerfen, das schön, gediegen oder trendy aussieht", sagt der Berliner Industriedesigner. "Es geht darum, Erlebnisse zu schaffen." Schon 2009 hat sein Studio Aisslinger mit dem Michelberger Hotel gezeigt, wie lokales Storytelling und rebellische Herbergskonzepte etwas Eigenes und Neues schaffen – von dem Megatrend der Individualisierung war zu diesem Zeitpunkt noch kaum die Rede. Das Michelberger ist Pop und Rock'n'Roll. Zwischen Industriefliesen und Flohmarktfundstücken sprüht es vor Berliner Lebensgefühl, bleibt dabei stets ehrlich und lockt mit Bands, Bar und Beamer nebenbei die Berliner in seinen Innenhof.
"Gute Erfahrungen, Erlebnisse und Entdeckungen" zählt der Designer auch heute als drei Schlüsselbegriffe seiner Arbeit auf – er entwirft "Orte, zu denen man gerne wiederkommt, weil man noch mehr entdecken möchte." Nicht ohne Grund gilt Werner Aisslinger mit seinen experimentierfreudigen Collagen als einer der Vordenker im Hospitality-Bereich – besonders nach dem großen Erfolg des 25hours Bikini am Berliner Zoo. In dem umgebauten 50er-Jahre-Hochhaus breitet sich ein Großstadtdschungel aus, der viel mehr als eine reine Kulisse ist. Aisslinger verbindet den echten Dschungel des Zoologischen Gartens mit dem "urban jungle Berlin": Das Hotel wird zum ultimativen Erlebnisraum. Für Werner Aisslinger sind Bedeutung und Wahrnehmung der analogen Welt vor allem aufgrund von Digitalisierung und Technologisierung enorm gewachsen. "Gerade heute muss das reale Erlebnis richtig gut sein. Hotel bedeutet: Man erlebt etwas. Fällt der Erlebnisfaktor weg, kann der Gast wieder in die digitale Welt flüchten."
Der Designer beurteilt die Qualität eines Hotels nach dem Zimmerprodukt mit Bad und Bett ("Beides muss super sein") und den Public Areas, in die man als Gast eintauchen können sollte. "Im Hotel lassen sich ungewöhnliche Bäder bauen, denn das überlebt der Gast für eine Nacht und freut sich, etwas Neues zu sehen und zu testen", meint der Experte. Ebenso wichtig ist ihm, dass der Gast ein Zimmer mit den wenigen persönlichen Dingen, die ihn auf seiner Reise begleiten, schnell besetzen kann. "Das muss der Raum ermöglichen. Man möchte seine Utensilien für eine Nacht nicht in Schränken und Schubladen verstecken, damit das Hotelzimmer so aussieht, als wenn ich als Gast gar nicht da wäre." Weshalb Werner Aisslinger jedes Zimmer so denkt, dass es sich im Handumdrehen personalisieren lässt – ein roter Faden für all seine Hotelprojekte in Berlin, Zürich, Stockholm und Köln.
Auch der neuste Coup von Studio Aisslinger, die Stayery Boutique Apartments in Berlin-Friedrichshain für die BD Apartment GmbH, verbindet die Bedürfnisse nach Individualisierung und Gemeinschaft mit neuen Technologien und jeder Menge hilfreicher Services. Das Angebot einer "Homebase auf Zeit" erfordert dabei ein besonders durchdachtes Gestaltungskonzept für die offenen Mini-Wohnlandschaften. Schließlich muss es für ein Wochenende ebenso wie für den Aufenthalt von einem Monat funktionieren. Materialien markieren die Übergänge von Eingangs- und Koch- zum Wohnbereich mit erhöhtem Schlafpodest – dunkle Fliesen treffen auf eine warme Holzoptik. Ähnlich wie in den Hotels dieser Zeit sind die Bäder nicht versteckt, sondern verbinden sich mit dem gesamten Raum.
Bleiben die Farben im Inneren eher zurückhaltend, sanft und im Pastellbereich von Lindgrün, Taubenblau bis Zartrosa, wartet im Flur ein lauter Kontrast: Wie ein Zebrastreifen dominieren schwarze und weiße Flächen den Boden des Korridors, den Werner Aisslinger als Straße definiert. Die Zimmernummern interpretiert er als Hausnummern, mit einer bunten Mischung aus gelben, schwarzen und roten Postfächern im Foyer lockert er die graue Topografie der Briefkästen auf. Es sind gerade solche Farbexplosionen, mit denen im Hospitality-Segment immer wieder betont wird. Gleichzeitig verwischen umfunktionierte Stadtmöbel die harte Linie zwischen Außen- und Innenraum.
Hommage und Storytelling, Upcycling und Nachhaltigkeit: Das Standard-Hotelzimmer reicht in Zeiten von Airbnb eindeutig nicht mehr aus. Wie aber wirkt sich die Individualisierung auf Architektur und Grundrisse der neuen Hotelkonzepte aus? Für Jan Sauermann, Planer und Associate Partner bei HPP Architekten, bleibt das vor allem eine Frage des Budgets, wobei offene Badkonzepte mit Spielraum für Gestaltung im Hotel elementar geworden sind. "Es geht hin zu individuelleren Konzepten. Ob Urlaub oder Business: Gäste sind anspruchsvoller geworden, das Standard-Hotelzimmer genügt da nicht mehr."
Als Projektleiter von HPP Architekten hat er in Düsseldorf den Bau des 25hours Hotels "Das Tour" im neuen Stadtviertel Quartier Central betreut, in dem Reisende ein wirklich ungewöhnliches Erlebnis erwartet. Einige Zimmer zur Südfassade haben eine französische Badewanne auf dem Balkon – womit bei der Eröffnung 2018 ein wirkungsvolles Bild durch die Presse ging. Mittlerweile wurden die voll verglasten Brüstungen mit einer Folie beklebt. Bei der Herleitung im frankophilen Düsseldorf spielt das Thema der Deutsch-Französischen Freundschaft eine Rolle, was wiederum zum Grundkonzept der gesamten Hotelgruppe passt. Jedes Haus wird stets individuell entwickelt und gestaltet, für "Das Tour" stammt das Interior vom Büro Stylt aus Göteborg. "Mit Düsseldorf verbinden die schwedischen Designer die Band Kraftwerk und deutsche Ingenieurkunst", erklärt Jan Sauermann.
Frankreich als Orientierung kommt ferner durch die Neugestaltung des Areals um den Derendorfer Güterbahnhof als Quartier Central hinzu. "Diese spannungsvolle Liaison haben wir hier umgesetzt. Es gibt German Rooms mit einem Werkstattcharakter und French Rooms mit Ateliercharakter als Gegenpart." Farblich eröffnen sich zwei eigene Welten. Unbehandelte Deckenflächen und Beton, Hartholzböden, Aufputzleitungen und eine Lochblechwand mit Hängemöglichkeiten: Die deutschen Zimmer sind technisch orientiert, dort hat man Farben und geometrische Formen aus dem Bauhaus übernommen. Demgegenüber stehen die weich gestalteten, eher femininen französischen Zimmer mit Himmelbett und mehr soften, warmen Tönen. Der Farbanstrich ist bewusst händisch aufgetragen und wirkt wilder und freier. Das Team von Stylt hat mit viel Liebe zum Detail Originalrequisiten gesammelt und in den französischen Zimmern platziert. Die gemischte Anordnung belebt obendrein die Flure. Haben die deutschen Zimmer schwarze Eingangstüren, sind die der französischen Zimmer cremerosé.
Dabei sind in Düsseldorf ebenfalls die Zimmer nicht alles: Man trifft sich an der Bar. Solche Gemeinschaftsflächen haben in Bezug auf Erlebnisse und Begegnungen in einem guten Hotel schon immer eine Schlüsselfunktion. Weil sich die Bar weit oben in der 16. und 17. Etage befindet, bietet sie einen spektakulären Blick über die Stadt und zieht ebenso Einheimische an. Zum Soft Opening luden die Hotelbetreiber alle Bewohner aus der Nachbarschaft zu einer kostenlosen Übernachtung ein. "Der lokale Charakter muss ja nicht mehr am Hoteleingang verloren gehen", findet Sauermann. "Man möchte ihn auch ins Innere transportieren."
Ein charmant interpretierter Bezug zwischen Innen und Außen, zwischen Zimmer und Stadt dient bei vielen der jüngsten Hotelneulinge als Kern ihres Erfolgs – kuratierte Farbwelten unterstreichen die Identität: Das hochgelobte und beliebte Lindley Lindenberg in Frankfurt von Franken Architekten und Studio Aberja verführt seine Gäste mit einem abgestimmten Farbkonzept von Curry bis Lachsrosa, Dorothée Meilichzon und Cristina Celestino setzen im 2019 eröffneten venezianischen Boutique-Hotel Il Palazzo Experimental auf postmoderne Bonbontöne, und das Mailänder Studio Pepe kombiniert im neuen OKKO Hotel am Pariser Gare de l'Est samtige Erdtöne mit warmen Puderfarben.
Die Liste extravaganter Hotels, in denen Innenarchitekten zu Geschichtenerzählern werden, wächst rasant, doch darf man nicht vergessen, dass Hospitality mehr ist als die reine Oberfläche. Ein Hotel "instagrammble" zu gestalten stehe heute in fast jedem Briefing. "Das allein genügt aber nicht mehr", meint Werner Aisslinger. "Gastlichkeit und Gastfreundschaft müssen auch gelebt werden." Ein Punkt, den Architekten und Gestalter leider nicht beeinflussen können. "Wir hören schließlich auf, wenn der Betrieb beginnt", betont der Designer. "Ab der Übergabe können wir nur noch beobachten, was die Betreiber aus dem Konzept machen." Das Hotel von heute und morgen sollte neben seinen Gästen auch stets das Personal begeistern, denn: Gute Geschichten werden gerne weitererzählt.