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Handwerk auf dem Land: Gegründet, um zu bleiben

Dieser Artikel erschien in der MarktImpulse 3/20

Titelfoto: Cover: shutterstock.com (lassedesignen, OPOLJA)

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Dieser Songtext der Popband "Wir sind Helden" bringt es auf den Punkt. "Mein Betrieb, mein Zuhause, meine Kunden – mich kriegt hier keiner weg!", so lautet das Motto der Landhandwerker. Sie haben gegründet, um zu bleiben. Weshalb insbesondere das Handwerk für soziale und wirtschaftliche Stabilität auf dem Land sorgt, erklärt Ökonom Petrik Runst. Weitere Gründe, weshalb Dörfer unbedingt gerettet werden müssen, verrät Dorfpapst Gerhard Henkel im Interview.

Wo meine Heimat ist, ist auch mein Handwerk! Diese Einstellung teilen viele Unternehmer. Ganz unabhängig davon, ob sie in der Stadt oder auf dem Land leben. Doch heute wollen wir den Blick nicht auf die große Stadt richten: Wir blicken in die kleinen Dörfer und schauen auf die dort ansässigen Handwerker. Denn ihre Zahl ist beträchtlich: Von rund einer Million Handwerksbetrieben deutschlandweit ist mehr als die Hälfte in ländlichen Regionen angesiedelt. Wieso Landhandwerker so gern bei ihren Wurzeln bleiben und weshalb das in vielen, wenn auch nicht allen Fällen gut funktioniert, erklärt Handwerksexperte Dr. Petrik Runst von der Uni Göttingen.

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  • <p>Dr. Petrik Runst; <em>Porträt: STUDIO FABIAN BERG</em></p>

    Dr. Petrik Runst; Porträt: STUDIO FABIAN BERG

Kleiner Ort, großes Gefühl

Das Leben und Arbeiten auf dem Dorf ist in erster Linie mit Emotionen verbunden. Für Landliebende geht das eine nicht ohne das andere. Ihre Heimat ist für sie mehr als eine Gegend, an die man gern denkt und die man ab und zu besucht. Für sie ist die Heimat ihr Zuhause und dabei Wirkungsstätte zugleich. Handwerker, die auf dem Land aufgewachsen sind, suchen ihr Glück seltener in einer fremden Region oder Stadt. Sie bleiben da, wo ihre Wurzeln sind, oder kehren nach einigen Umwegen dahin zurück.

  • <p>aus "Heimat" von Anna Depenbusch;&nbsp;<em>Foto: Unsplash (bruno-martins)</em></p>

    aus "Heimat" von Anna Depenbusch; Foto: Unsplash (bruno-martins)

Landhandwerker gründen ihr Unternehmen oder bleiben mit ihm genau dort, wo ihre Familie, manchmal bereits seit Generationen, tief verankert ist und wo sie selbst ihre Kinder großziehen möchten. Kurz: Sie sehen dort eine Zukunft für sich. Und für genau diese Zukunft kämpfen sie, wenn nötig: Sie flüchten nicht, wie manches Unternehmen aus der Industrie, wenn's mal ruckelt. Wenn das Glasfasernetz beispielsweise doch nicht ausgebaut wird oder der bürokratische Aufwand in der Gemeinde zusehends mehr Zeit und Nerven fordert. Die klassischen Standortfaktoren wie Miete und Verkehrsanbindung sind für Landhandwerker zwar durchaus relevant, aber nicht ausschließlich entscheidend. Sie folgen, auch wenn es pathetisch klingen mag, eher ihrem Herzen.

Ausbilder der Nation

Von dieser Verbundenheit kann die ganze Gemeinde profitieren. Ökonom Petrik Runst bewies in seinen Studien: Handwerksunternehmen sind für ihre ländlichen Heimatregionen immens wichtig, weil sie dort die wichtigsten Arbeitgeber sind. Sie stellen bis zu 30 Prozent der Jobs auf dem Land. "Handwerker sind oft die letzten, die noch Wirtschaftsstruktur schaffen", erklärt der Experte. "Sie erhalten und schaffen Arbeitsplätze, vor allem für die Jugend."

Handwerker gelten mit ihrer überproportionalen Ausbildungsleistung in Deutschland traditionell nicht nur als Ausbilder der Nation – 28 Prozent aller Azubis erlernen derzeit ein Handwerk –, dem Handwerk auf dem Land messen Wissenschaftler sogar die Rolle eines "sozialen Integrators" bei. Petrik Runst erklärt: "Handwerksunternehmen sorgen in ihrer Region nicht nur für mehr wirtschaftliche, sondern auch für mehr soziale Stabilität. Diese Betriebe übernehmen, insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche, die Aufgabe, benachteiligte Bevölkerungsgruppen wie Geflüchtete und leistungsschwächere Schulabgänger in das Arbeitsleben zu integrieren."

Eine große Leistung der kleinen, oft familiengeführten Betriebe auf dem Land. Jeder von ihnen ist Teilstück der sogenannten handwerkswirtschaftlichen Kernregion, kurz: des Landes. Für die soziale Stabilität sorgen hier, so der Experte, vor allem Vernetzung und ehrenamtliches Engagement. Besonders die Betriebsinhaber seien häufig gut in ihrer Dorfgemeinschaft eingebunden. Weil sie sich in Sport- und Schützenvereinen engagieren, sich auf lokalpolitischer Ebene einsetzen und vor allem, weil sie ihre Kunden persönlich kennen. Mundpropaganda spielt auf dem Land eine bedeutende Rolle – wer wünscht sich nicht, dass der Maler von nebenan, den man seit Ewigkeiten kennt und schätzt, das eigene Zuhause streicht? Die Basis bildet das Vertrauen zueinander und die räumliche Nähe. Nähe zu ihren Kunden nannten auch 33 Prozent der Maler als einen der entscheidenden Standortfaktoren, wie eine Umfrage des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH) 2019 ergab. Der Handwerker auf dem Land ist also nicht nur Dienstleister, er ist gleichzeitig Freund, Nachbar oder Vereinskollege.

  • <p>aus "Westerland" von Die Ärzte;&nbsp;<em>Foto: Unsplash (eleventh-wave)</em></p>

    aus "Westerland" von Die Ärzte; Foto: Unsplash (eleventh-wave)

Bezahlbar, weiträumig, traditionell

Neben dieser emotionalen Bindung gibt es weitere gute Gründe, warum Maler auf dem Land einen Betrieb führen. Laut Petrik Runst gibt es drei Motive, weshalb das Handwerk auf den Dörfern nach wie vor funktioniert: "Erstens: Auf dem Land ist es günstiger. Die Mieten sind beispielsweise geringer. Zweitens: Es gibt mehr Platz. Der Flächenbedarf bei Handwerkern kann variieren. Auf dem Land gibt es Raum, um anzubauen oder eine Halle auf die grüne Wiese zu setzen. 8 Prozent der Handwerksbetriebe in Deutschland planen laut ZDH-Umfrage in den kommenden Jahren einen Standortwechsel. In Innenstädten liegt dieser Anteil mit 17 Prozent höher.

Hauptgrund für die Standortverlagerung sind fehlende Erweiterungsmöglichkeiten am aktuellen Standort. Drittens: Es ist Tradition. Schon im 19. Jahrhundert gab es auf dem Land eine hohe Handwerkerdichte, vor allem in Orten, an denen die Böden Agrarwirtschaft nicht mehr ermöglichten." Trotz Kriegen und eines Systemwechsels wie der Wiedervereinigung hält sich in diesen Regionen spezialisiertes Wissen dauerhaft. Ein Beispiel ist das Erzgebirge und seine Holzwirtschaft, dort sind nach wie vor viele bekannte Spielzeugmacher und Drechsler ansässig.

Landflucht ist kein Ammenmärchen

Landflucht ist kein Ammenmärchen Eines ist nicht schönzureden: Nicht jede kleine Gemeinde hat das Potenzial, ein guter Standort für das Handwerk zu sein oder es zu bleiben, wie die Karte oben verdeutlicht. Medienberichte und Studien über die zunehmende Abwanderung der Jüngeren und leerstehende Häuser sind keine Ammenmärchen. Petrik Runst bestätigt: "Es gibt ländliche Regionen, die extrem unter dem Urbanisierungstrend leiden. Dort zieht es die Menschen in die Stadt, weil ihr Dorf zu abgelegen ist und die Infrastruktur nicht ausreicht."

  • <p>aus "Heimat" von Johannes Oerding;&nbsp;<em>Foto: lifeofpix (Jan Valecka)</em></p>

    aus "Heimat" von Johannes Oerding; Foto: lifeofpix (Jan Valecka)

Denn bei aller Heimatliebe: Ein Dorf benötigt ganz bestimmte Attribute, um Handwerkern das Überleben zu ermöglichen. Und die können die Bewohner kaum selbst beeinflussen: Neben einem breitbandigen Internetanschluss ist der alles entscheidende Standortfaktor für 47 Prozent der deutschen Handwerker "eine gute Anbindung an das Straßennetz". Wer "weit ab vom Schuss" ein Unternehmen am Leben erhalten will, hat es schwer. Erstens: weil er potenzielle Neukunden im größeren Umkreis schlecht erreichen kann. Zweitens: weil die Kaufkraft aufgrund der schwachen Infrastruktur einfach niedriger ist.

Und jeder, der einen echten Neuanfang mit Betrieb und Familie im Grünen plant, geht ein Risiko ein. Denn das, was gleichzeitig den Charme kleiner Gemeinden und Dörfer ausmacht, ist für Fremde schwierig zu durchdringen: Die Menschen bilden eine eingeschworene Gemeinschaft, die auf gewachsenem Vertrauen basiert. Befindet sich zudem bereits ein etablierter Betrieb im Umkreis, am besten noch eines Einheimischen, sollte man sich die Konkurrenz und deren Angebot vorher ganz genau anschauen.

 

Ran an den Speck

Für Maler, die sich erfolgreich den Traum eines eigenen Betriebs auf dem Land erfüllen wollen, gibt es seit einigen Jahren eine vielversprechende Alternative zum traditionellen Dorf: das urbane Dorf. Das sind Gemeinschaftsprojekte zum Arbeiten und Wohnen, die von Städtern gegründet werden, die naturnah leben und arbeiten wollen. Um ihren Traum zu verwirklichen, beleben sie z. B. stillgelegte Fabriken, Mühlen, Klosteranlagen oder Landgüter wieder. Hier entsteht das digitale Büro neben der neuen Schreinerei, wird das vegane Café neben dem Virtual-Reality-Start-up eröffnet, gründen junge Familien Waldkitas und teilen sich ihre Autos.

Handwerker sind in diesen Landkommunen willkommen, weil es wegenzahlreicher Umbauten über Jahre viel zu tun gibt. Sie müssen sich also nicht möglichst schnell einen Kundenkreis aufbauen, um zu überleben, sondern können dies in Ruhe und mit Bedacht tun. Das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung und der Denkfabrik Neuland 21 haben 18 solcher Projekte rund um Berlin untersucht und stellten fest: Diese sogenannten Speckwürfel stellen keine Gefahr für kleinere Dörfer und die dort ansässigen Traditionsbetriebe dar.

Im Gegenteil: "Dass nun junge Kreative und digitalaffine Städter das Land für sich entdecken, birgt für demografisch angeschlagene Regionen eine große Chance", fasst Silvia Hennig, Gründerin von Neuland 21, zusammen. "Sie entwickeln und erproben in den Dörfern und Kleinstädten gemeinschaftliche Wohnformen und innovative Arbeitsmodelle. Damit könnten sie Pioniere einer neuen Bewegung sein, die mit digitalen Ideen das Leben auf dem Land wieder für mehr Menschen attraktiv machen."

Die Infrastruktur, die diese Projekte schaffen, zieht zum einen noch mehr Menschen an. Zum anderen entstehen neue (Ver-)Bindungen, weil die Bewohner sich einbringen. Sie unterstützen Vereine vor Ort, machen Hoffeste oder erleichtern durch ihren Zuzug, dass beispielsweise eine Grundschule mit wenig Kindern weiterbetrieben werden kann. Das setzt eine Aufwärtsspirale in Gang: Mehr junge Leute bedeuten gleichzeitig auch mehr Chancen für regionale Unternehmer, dort mitzumachen. So entsteht ein wachsender Arbeitswürfel, in dem es viele Standortvorteile gibt, die man sonst nur im direkten Umfeld der Städte hat. Das Arbeiten und Leben auf dem Land kann für Handwerker, auch für Zugezogene aus der Stadt, also nach wie vor ein Erfolgskonzept sein.

  • Das Projekt Alte Mühle Gömnigk hat derzeit ca. 30 Bewohner, 18 Hektar Land und mehrere Werkstätten.
  • Das Projekt Annagarten in Oranienburg hat bisher 38 Mitstreiter, u. a. sind Werkstätten und Gartenbau geplant.
  • Das Projekt Uferwerk in Werder (Havel) entstand in einem ehemaligen Schaltgerätewerk und bietet mittlerweile mehr als 100 Bewohnern ein neues Zuhause.
 
"Das Dorf ist nicht tot"

"Das Dorf ist nicht tot"

Über 40 Millionen Menschen leben in Deutschlands ländlichen Regionen. Die meisten fühlen sich sehr wohl, einige aber auch allein gelassen.

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