Fotos: Rafael Gamo
Dieser Artikel erschien in der colore #graphitgrau
Bestellen Sie die Printausgabe per E-Mail an: kontakt@brillux.de
Wie dunkle Schatten verbinden sie sich mit dem Nebelwald, die neun Betonkuben. Die Idee eines Hauses neu definiert als Dorf. Mit hierarchisch zueinander angeordneten Funktionsbereichen in unterschiedlichen Höhen, ausgerichtet zur Sonne, zum Innenhof, zum Wald. Den Grundriss eint ein Gleichgewicht zwischen Unabhängigkeit und Verbindung. Wie eine Menschengruppe sind sie einander ab- oder zugewandt, näher gerückt oder etwas abseits, je nachdem, welche Art von Verhältnis besteht.
160 Kilometer von der pulsierenden Metropole Mexiko-Stadt entfernt, existiert dieses 6.500 Quadratmeter große, nahezu unerschlossene Naturgebiet im Bereich des Valle de Bravo mit Wiesen und Wald. Die Gegend ist kaum besiedelt. Auf den insgesamt nahezu 500 Hektar ungezähmter Wildnis soll eine neue kleine Siedlung entstehen, die später ca. 70 Gebäude umfassen wird.
Dem ersten realisierten Projekt, dieser Ansammlung zersprengter Funktionseinheiten, nähert man sich über einen fast im Verborgenen liegenden Weg, dessen Perspektive punktuell einen Teil eines Gebäudes auftauchen und wieder in der hügeligen Topografie der Landschaft verschwinden lässt. Langsam taucht man ein in diese Gegend und schließlich endgültig auf: im Innenhof. Der zentrale Platz. Beim Herum- und durch die Mini-Gässchen Hindurchschauen entstehen harmonische Winkel aus Fassaden, Grün, Boden und Himmel, jeder Blick eine neue Bildkomposition.
Zwei Architektinnen zeichnen für dieses außergewöhnliche Projekt verantwortlich. Die Bauherren beauftragten Fernanda Canales, die bekannt ist für ihre teils kleinen, aber eindrucksvollen Wohn- und Kulturprojekte sowie für ihre zahlreichen Publikationen und Ausstellungen. Sie beschäftigt sich bis heute intensiv mit ihrem Herkunftsland, seiner Kultur, seiner architektonischen Geschichte. So wundert es nicht, dass sie zusammen mit ihrer temporären Kooperationspartnerin Claudia Rodriguez nicht einen flachen, wiesenartigen Teil als Baugrundstück wählte, sondern eine abgeböschte Waldlichtung mit altem Baumbestand. Respektvoll dem gegenüber, was die Architektinnen dort antrafen, schieben sie quasi die einzelnen Baukörper behutsam auf ihren Platz zwischen den Bäumen. Der in Mexiko oft verwendete dunkel eingefärbte Beton trägt zusätzlich noch dazu bei, dass sich die Gebäude in ihrer kleinteiligen Dimension in die Umgebung ducken. Sie treten der Wildheit der Natur mit Struktur und Rechtwinkligkeit entgegen, ohne sie wirklich zu berühren oder sie gar zu verletzen.
Umgebung hat für mich eine größere Bedeutung als die Architektur an sich. Für mich ist Architektur nur ein Rahmen, sie sollte unprätentiös sein und mir das Gefühl geben, Teil der Welt zu sein. Ich muss mich eingebettet, geschützt und gleichzeitig mit dem Äußeren verbunden fühlen.
Fernanda Canales, Architektin
Vier Kuben bilden das Haupthaus, sind über Gänge miteinander verbunden. Wohnhaus, Küche, Eltern- und Kinderschlafzimmer sind eine Einheit, die sich zu den weiteren fünf Gebäuden positionieren. Diese beherbergen Gästehäuser, Service-Bereiche und die Garage, etwas abseits vom Innenhof. Die Fassaden öffnen sich allesamt zur Natur und sind zum Innenhof eher geschlossen ausgebildet, zwei der Kuben verfügen über Dachterrassen. Die meisten Räume haben große, vom Boden bis zur Decke reichende Fenster mit Blick in die Natur und sind optimal auf die Sonneneinstrahlung positioniert, denn: Die Temperaturunterschiede können innerhalb von 24 Stunden enorm sein, kalter Nebel umhüllt diese Region häufig. Da jeder Sonnenstrahl willkommen ist, wurde jeder Baukörper individuell darauf ausgerichtet.
Durch den Einsatz der vier Hauptmaterialien Beton, Eichenholz, Stein und Glas handelt es sich fast um eine Synthese der Einfachheit. Die Farbe des Betons variiert in dunklen Grautönen – von mittelgrau bis graphitgrau, fast schwarz. Durch ihre harmonische Platzierung und authentische Ausstrahlung durchzieht die perfekt verbauten Materialien ein Hauch von Luxus. Einfach heißt hier nicht weniger komfortabel oder simpel – eher minimalistisches Interieur verteilt sich in für sich großzügigen und nur in der Gesamtheit kleinteiligen Kuben. Immerhin handelt es sich bei der bebauten Fläche um 600 Quadratmeter.
Der Masterplan sah einen sensiblen Umgang mit der Natur von Anfang an vor. Claudia Rodriguez war an seiner Erstellung beteiligt, kannte also das Areal bin ins kleinste Detail. Der Plan beinhaltete die Anforderung, die Häuser so zu realisieren, dass das gesamte benötigte Wasser selbst aufbereitet, ausschließlich heimische Vegetation eingebracht wird und die noch existierenden alten Eichen nicht gefällt werden. Außerdem wurden begrünte Dächer und der Verzicht auf versiegelte Flächen gewünscht. Claudia Rodriguez dazu: "Die Idee war es, die Freiheit der Häuser auszudrücken und gleichzeitig die Identität der Landschaft zu stärken." So erscheinen die Häuser gerade von oben eher wie vermooste Felsen denn wie störende Hinweise auf Zivilisation inmitten der grünen, kargen Wildnis.
Diese Entwurfslösung entstand aus der Auflage heraus, jeden vorhandenen Baum auf dem Gelände zu respektieren und jeden Raum sowohl am Morgen als auch am Nachmittag mit Sonnenlicht zu versorgen.
Fernanda Canales, Architektin
"Ich opfere nie den Komfort dem äußeren Eindruck!" Fernanda Canales sagt dies mit Überzeugung und beweist es auch: Das Ausgangsmaterial Beton wurde nicht zuletzt gewählt, weil es quasi wartungsfrei ist. Hinter Schiebetüren befinden sich ausklappbare Etagenbetten, Obergeschosse können zu Erdgeschossen zugeschaltet werden – ob Lust auf Rückzug oder Gesellschaft, ist jedem Bewohner und Gast selbst überlassen. Fast alle Räume haben Fenster auf zwei gegenüberliegenden Seiten, die eine Querlüftung ermöglichen. Fenster und Türen können bei Bedarf händisch geöffnet oder geschlossen werden, Holzöfen und Kamine sorgen für wohlige Wärme, eine Klimaanlage gibt es nicht. Fernanda Canales liebt den Umgang mit Farbe, ist in ihrer Arbeit besonders beeinflusst durch das Werk von Luis Barragán. "Ich versuche immer den Ort und das, was dort gebraucht wird, zu erspüren, versuche mir zukünftige Entwicklungen und die Verwitterung des Gebäudes vorzustellen. Ich verstehe Farbe nicht als etwas, das oberflächlich aufgetragen wird, sondern als ein Volumen, eine Masse. Auf diese Weise verwende ich Farbe als Raum, als Ort. Sie muss verwurzelt und Teil des Materials und des Raumes sein."
Fernanda Canales hat einen Doktortitel in Architektur und wurde mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichnet. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen, war Fakultätsmitglied an der Yale School of Architecture in New Haven und wurde als Rednerin an die Architectural Association School in London, die Edinburgh School of Architecture and Landscape Architecture und die Columbia University Graduate School of Architecture in New York eingeladen. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der Royal Academy of Arts in London, der ifa-Galerie in Stuttgart, der Gallatin Gallery in New York und während der Architekturbiennale in Venedig ausgestellt.
Claudia Rodriguez konzentriert sich bei ihrer architektonischen Arbeit auf die Etablierung kooperativer Prozesse zur Projektentwicklung, die sich auf unterschiedliche Landschaftsaspekte bezieht: von der territorialen Planung bis hin zu lokalen Architekturattributen. Sie hat die zwei interdisziplinären Initiativen "TOA – Taller de Operaciones Ambientales" (Architektur und Landschaft) und "Co_Plataforma" (Innovationszentrum für nachhaltige Ideen, Produkte und Dienstleistungen) ins Leben gerufen. Claudia Rodriguez hat einen Masterabschluss in Architekturtheorie und -kritik.