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Fabelhafte Farbräume: Farbige Raumkleider für Handlungsräume

Dieser Artikel erschien in der colore #graphitgrau

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Wenn außen nicht nur außen und innen nicht einfach nur innen ist.

Eine kleine dadaistische Geschichte von Kurt Schwitters beschreibt die schwankenden Sichtweisen unterschiedlicher Raumwahrnehmung, die der Nutzer einnehmen kann.

Wie man gratis in ein Kino kommt!
"In Prag heißt Eingang 'Vchod' und Ausgang 'Vichod'. Der ganze Unterschied ist nur ein kurzes i. Das gab mir Anlass zum Denken, ich dachte über die Begriffe Eingang und Ausgang nach. Und mit Erfolg. Das Wesentliche ist immer die Richtung des Kopfes, beim Eingang weist sie nach innen, beim Ausgang nach außen. Gut – ich fragte nun den Pförtner eines großen Kinos in Berlin, ob beim Eintreten in ein Kino eine Geschwindigkeit vorgeschrieben wäre. Der meinte, darüber bestünde keinerlei Vorschrift. Gut – also kann die Geschichte auch negativ sein. Man muss daher nicht den Eingang, sondern den Ausgang eines Kinos betreten, wenn man gratis hineinkommen will, stellt sich mit dem Gesicht nach außen, den anderen schönen Körperteil natürlich nach innen, und geht mit negativer Geschwindigkeit hinaus. Niemand kann Ihnen dann was wollen, denn Sie benutzen den Ausgang in erlaubter Weise."
(Zitat: Kurt Schwitters)

Beim Betreten eines Gebäudes bringt der Eintretende Erinnerungen aus dem Äußeren mit in das Innere. Das erzeugt Erwartungen an das innere Raumerlebnis. Gleichzeitig sind Innenräume von außen nicht erlebbar. Dieser Sachverhalt beinhaltet eine denkbare Veränderung des Blickwinkels. In meinen Augen reicht es nicht, planerisch "mit negativer Geschwindigkeit rückwärts in ein Gebäude hineinzugehen" und zu denken, das sei die "richtige" Raumgestaltung. Oft entsteht das Innere eher beiläufig. Der Innenraum braucht einen Übergang, eine Transition, eine Überleitung, es kann auch ein Bruch sein. Auf jeden Fall muss gestalterisch ein verwandelnder Wechsel stattfinden, der Innen und Außen in eine Beziehung setzt.

Differenzierung von Innenräumen

Dies kann in unterschiedlichen Planungsansätzen beschrieben werden – hier mit zwei Raumbeispielen aus dem Barock: Borromini erbaute in Rom um 1640 die Kirchen San Carlo alle Quattro Fontane und Sant'Ivo alla Sapienza. Grundriss und Fassade bilden keinen direkten, inhaltlich räumlichen Zusammenhang. Hinter der geschwungenen Fassade des Bauwerks erwartet man einen der Konzeption der Außenhülle entsprechend geformten Innenraum. Für diesen hatte Borromini aber andersartige Vorstellungen, die Füll- oder Hohlräume notwendig machten. Es gab eine exakte Vorstellung für den Innenraum, die von der äußeren Peripherie abweicht. Diese Spaltung zwischen Innenraum und Fassade, zwischen dem Inneren und dem Äußeren, ist typisch barock. Das Innere ist autonom und unabhängig vom Äußeren. Auch die Fassade gibt andere, vom Innenraum unabhängige Merkmale vor: eine äußere Form ohne gestalterischen Bezug zum Inneren. Die Beziehung wird über die barocke Formensprache hergestellt. Der französische Philosoph Gilles Deleuze beschreibt dieses Phänomen in seinem Werk.

Die Falte:
"Weit entfernt davon, sich der Struktur anzupassen, tendiert die barocke Fassade dazu, nur sich selbst auszudrücken, während das Innere seinerseits zurückfällt, geschlossen bleibt, sich dem es im Ganzen und von einem Gesichtspunkt aus entdeckenden Blick darzubieten tendiert: eine Schatulle, worin das Absolute ruht. Das reine Innere ohne Äußeres, in Schwerelosigkeit geschlossene Innerlichkeit, ausgekleidet mit spontanen Falten, die nur noch diejenigen einer Seele oder eines Geistes sind. Das ist das eigentlich Barocke: die Unterscheidung und Aufteilung in zwei Welten."

Deleuze erdachte, Leibniz’sches Gedankengut integrierend, eine ganze Philosophie zur barocken Falte, der Zwiefalt, die sich auf beiden Seiten entfaltet und faltet und die nicht eines entfaltet, ohne das andere zu falten – in einem gleichzeitigen Vorhandensein des Enthüllens und Verhüllens, der Anwesenheit und des Rückzugs. Diese Philosophie verdeutlicht die Abhängigkeit und gleichzeitig die Autonomie der zwei Disziplinen "Architektur" und "Innenarchitektur". Sie können miteinander interagieren, korrespondieren, resonieren. Der Innenraum ist ein Raumerlebnis, dieses Geschehen will inszeniert sein oder zumindest wesenhaft gekleidet sein. Die Stimmung des inneren Erlebens sucht ihren Ausdruck im Äußeren.

Erinnerung an Innen-Orte

Das, was zu sehen ist, befindet sich drinnen – so beispielsweise Le Corbusiers "La Tourette". Vielleicht inspirierte ihn ein barocker Geist, denn das flach einfallende Licht kommt aus Öffnungen, die dem Bewohner selbst unsichtbar sind. Klösterliche Räume entwarf Corbusier eher als Raum ohne Tür und Fenster, in dem alle Tätigkeiten innerliche sind.

Licht im Umbruch-Haus

Der Düsseldorfer Künstler Mischa Kuball ging noch strikter vor. Er entwickelte 1994 für die Synagoge in Stommeln bei Köln das Refraction House, ein Haus des Umbruchs. Normalerweise stellen Künstler in der kleinen Synagoge, die im Innenhof eines fünfbis sechsgeschossigen Häuserblocks liegt, ihre Bilder und Objekte aus. Kuball jedoch bestückte den Innenraum ausschließlich mit 16 1.000-Watt-Strahlern und schloss das Gebäude zu. Er schuf eine Architektur ohne erlebbaren Innenraum, die aber mit einer inhaltlichen Botschaft versehen war. Wie ein Juwel leuchtete die Synagoge acht Wochen lang und wurde damit zu einer Lichtskulptur, einem jüdischen Relikt in unserer christlich geprägten Gesellschaft. Im Vorfeld diskutierte er die Geschichte rund um die Synagoge mit den Anwohnern in den Eckkneipen, daraus entstand eine erzählerische Dokumentation. Wem unter ihnen das Licht nachts zu grell war, der erhielt eine Jalousie. Man stelle sich die Ausstellungseröffnung vor: viele extra angereiste Kunstinteressierte vor einem verschlossenen Ausstellungsraum!

Das Wesen eines Raumes

Nur eine feine Nuance charakterisiert und unterscheidet Innenarchitektur und Architektur: die Richtung des Kopfes – mal weist er nach innen und mal nach außen. Der Charakter eines Raumes entsteht aus seinen Grenzen, den Wänden – aber zugleich aus dem transparenten Raum zwischen den Grenzen, seinem Volumen. Sein Wesen aber empfängt der Raum aus Orten. So definiert Martin Heidegger die Blickrichtung "Innen". Definierter Innenraum ist mehr als zufällig entstandener Zwischenraum. Franz Oswald, der Züricher Architekturprofessor, formuliert es so: Gezeichnete Linien sind zweideutig,mal kennzeichnen sie die Umrisse eines Körpervolumens und das andere Mal die Umrisse eines Raumvolumens. Gottfried Semper begründete 1849 die Idee einer Bekleidungstheorie. Die menschliche Kultur sei von dem Willen zum Maskieren und Verkleiden begleitet. Diese Maske werde in dauerhaftes Material übertragen. Der Ursprung der Architektur liege hier in der Textilkunst und deren Grundelement, dem Knoten. Die Verwendung von Textilien als raumtrennende Begrenzung gehe der Errichtung fester Wände aus Holz oder Stein voran. Stoffe seien wandabteilend und raumabschließend. Jede Wand / Mauer erscheine als eine Art von Gewebe, als eine in Stein gehauene Teppich-Wand, hier sehe man die gemeinsame Wurzel der Worte ‚Gewand und Wand‘. Teppiche, Decken und Gewänder verdankten ihre Entstehung dem elementaren Verlangen nach Körperschutz, sie bekleideten den Leib und unterteilten das Gebäudeinnere in Zimmer und Wohnungen durch quer gespannte Matten oder Vorhänge. Neben dem materiellen Bedürfnis nach wirksamem Körperschutz sei der ideelle Hang zum Schmuck ein weiterer Faktor. Das Prinzip des Schmückens sei ein Ursprung schöpferischer Seinsdeutung als eine den Menschen vor all seinen Mitwesen auszeichnende Kulturleistung, ein nur ihm eigenes Privileg. Er gestalte das unmittelbar Erscheinende um zu Kunstdingen, nehme ihm dadurch seine Fremdheit und mache es sich zu eigen. Das von Natur aus Gebotene genüge ihm nicht. Er arbeite daran, die Natur in ihrer Entfremdung vom Geist zu überwinden. Er sei erst versöhnt, wenn er allem den Stempel seines Tuns, das Siegel seines Innern aufgedrückt habe, wenn er in der Außenwelt sich selbst wiederfinde, in ihr ein Produkt seines eigenen Wirkens und Schaffens entdecke. So weit Gottfried Semper.

Der Blickpunkt, ein Raumkleid zu betrachten vom Gebäude ausgehend, beinhaltet die Unterscheidung zwischen Gerüst und Haut. Das "konstruktive Skelett der Notwendigkeit", wie Otto Wagner es ausdrückte, wird verziert mit Schönheit. Man kann es auch die harte und die weiche Struktur eines Hauses nennen. Wagner zeigt dieses Mehr an Applikation bei seiner Wiener Postsparkasse in der sichtbaren Fixierung der Plattenverkleidungen. Er ahmte auch Prozesse des Flechtens und Webens in seinen Fassaden nach.

Der Nutzer bestimmt den Blickpunkt

"Raumkleider" zu schaffen könnte man in Beziehung setzen mit der Kultur des Anziehens. Das Kleid trägt der Mensch, wie eine Schnecke ihr Haus um sich herum und mit sich trägt. Das Körperkleid steht mehr im Licht der Öffentlichkeit als die Wohnung. Ein Kriterium fürs Kleidermachen ist die Anpassung des Kleides an den Körper, das Maßnehmen der Brustweite, der Taille, der Ärmellänge, der Schulterbreite, der Hüftbreite, der Rocklänge. Unvorteilhafte Proportionen werden zurechtgerückt, Maßstäbe vom ästhetischen Ideal des menschlichen Körpers angelegt. Das Kleid betont oder unterdrückt bestimmte Partien des Körpers. Es korrigiert und stilisiert. Die Struktur, der Fall, die Dicke und Schwere eines Stoffes werden ins Kalkül gezogen. Erst dann wird ein Schnitt entschieden. Die Frage "Ist der Schnitt vorteilhaft für diesen Menschen und seine Proportionen?" wird gestellt. Passen Struktur und Farbe des Stoffes zu seinen Augen, seiner Haarfarbe, seinem Teint? Ist der Stoff zu grob für sein feines Gesicht?

Kriterien für ein Raumkleid

Eine Analyse könnte folgende Fragen hervorbringen: Welche prägenden Details hat ein Raum oder ein Gebäude? In welchem Umfeld steht es? Aus was ist es gemacht? Welche Maßordnungen birgt es? Wie ist das Verhältnis geöffneter zu geschlossenen Flächen? Wie gelangt man von außen nach innen? Welche Bewegung legt der Grundriss nahe? Die Nutzeranalyse, seine Ansprüche und seine Handlungsorte sind der nächste Step, erst dann werden Horizonte festgelegt, Materialentscheidungen getroffen, konstruktive Verbindungen gelöst. Das Raumkleid umfasst nicht nur die konzeptionelle Idee der Haut des Raumes, sondern auch die ihrer Fügung. Wo beginnt die Farbe, wo hört sie auf? Wie greift ein Farbfeld in das nächste? Überlagernd, sich absetzend, ineinanderfließend? Ganz natürlich werden Farbflächen auf Trägerflächen aufgetragen, auf Putz, auf hölzerne Bekleidungen, ganz eben oder plastisch. Der Blickwinkel des Bekleidens gibt dem Planer eine größere Freiheit für mehrere Lösungsgedanken. Wenn Gebautes in ganzheitlich durchgefärbtem Material verstanden wird, haben Innen wie Außen eine exakt gleiche Oberfläche. Das ist nur selten möglich, da in unserem Klima Wärmedämmung und Schallschutz ebenfalls mit der Wandkonstruktion gelöst werden müssen.

  • <p>"Körperkleid" - es gibt Formen, die nur von ihrem Inneren übertroffen werden.</p>

    "Körperkleid" - es gibt Formen, die nur von ihrem Inneren übertroffen werden.

Beziehungen zum Handlungsort

Bei der Überlegung, dem Raum ein Kleid zu geben, gelten Prinzipien des Bekleidens eines Körpers: Schichtdicke, Oberfläche und Silhouette sind gestalterische Prinzipien des Flächenverbindens. Die farbige Haut des Raumes kann sich proportional und räumlich verfeinert auf den Handlungsort beziehen. Kleid und Raumkleid sind Mittel, bestimmten Vorstellungen von sich selbst und der Welt sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Das Kleid, das dem einen passt, passt dem anderen noch lange nicht.

Wie leicht werden Wohnklischees in jeden beliebigen Grundriss transportiert ohne Rücksicht auf bauliche Gegebenheiten? Ein Kleid beansprucht Raum, bringt Individualität zum Ausdruck, es ist keine Verkleidung. Kleidung und Wohnkultur – beide bieten Schutz, geben ein Gefühl von Geborgenheit, erfüllen Schönheitsvorstellungen und Repräsentationsabsichten. Zu Mode und Interieur gehört die Fähigkeit, sich Veränderungen im Fühlen und Denken der Menschen schnell anzupassen. Die Baukunst, obwohl eng verbunden mit der Innenraumgestaltung, kann einen Wandel aufgrund des dafür erforderlichen ungleich höheren Aufwands nur in größeren Zeitabständen vollziehen. Die Uminterpretation vorhandener Räume durch Nutzungswechsel ist allen Planern wohlbekannt. Zu den minimalen Bekleidungen im Raum zählt der bekleidete Tisch, die bekleidete Wand, der Teppich, die bemalte Decke: Membranen zwischen Raum und Mensch.

Der 2016 verstorbene schwedische Architekt Jan Gezelius bearbeitete Innenräume sehr behutsam und vorsichtig. Es gibt ein hölzernes kleines Wohnhaus, dessen freistehende Stützen bis zu einer Höhe von ca. 1,60 m hölzern blieben, damit sie sich integrieren in den geölten Dielenboden, darüber sind sie inklusive der diagonalen Verstrebungen weiß gestrichen und bilden den Übergang in die verputzte Decke. Ein einfaches, sinnfälliges Gestaltungsmittel. Ähnlich ungewöhnlich baute er ein kleines Haus für eine Fischerfamilie auf der Insel Öland. Das kleine Grundstück lag hinter einem hohen Felsen. Gezelius baute ein Turmhaus, damit der Fischer das Meer sehen konnte. Wenn dieser unten am Esstisch sitzt, der am verglasten Innenhof steht, schaut er auf eine Föhre, die seinen Blick nach oben schweifen lässt, und er weiß, die Föhre sieht das Meer.

Ganz oben gibt es Stufen, die in keinen Raum mehr führen, aber von denen er einen weiten Blick auf das Meer hat. Genauso poetisch löst Gezelius die Materialisierung: außen grob verschalt mit graublauen Lärchenbrettern, innen hell und heiter und so farbenfroh, wie die Fischer sonst ihre Boote bemalen. In seinem Vortrag an der Kunstakademie Düsseldorf im Jahr 1992 sprach er über das Verletzliche, das allein überleben wird – vielleicht, weil es unserer menschlichen Mentalität so ähnlich ist. Seine Suche nach authentischen Lösungen ist eine allgemein wünschenswerte.

Farbflächen in der dritten Dimension

Ganz anders und spielerisch arbeitet der Münchener Maler Roland Geissel. Er beherrscht das Repertoire farbiger Raumveränderungen, manipulierend schafft er völlig neue Szenerien und imaginäre Farbräume, die wie poetische Raumverwandlungen auftreten. Seine Arbeiten sind eine exzellente Inspiration. Auch wenn die Bilder dieser Räume sehr ästhetisch sind, so ist doch erst das Erlebnis des Begehens dieser Räume ein in Erinnerung bleibendes Ereignis.

Mutige Konzeption und farbige Erinnerung

Bruno Taut sagte: "Wie die Räume ohne den Menschen aussehen, ist unwichtig, wichtig ist nur, wie die Menschen darin aussehen!" Die Erinnerung an das Äußere, das ins Innere gelangt, und der konzeptionelle Wechsel zwischen Innen und Außen sind in der Gestaltung von Räumen und ihren Kleidern essenziell. Es bedarf Mut hinsichtlich der farbigen Konzeption, wenn man die Handlungsorte im Inneren als geschlossene gestalterische Einheiten ansieht, die es zu verknüpfen gilt.

 

Prof. Eva Filter von der Detmolder Schule für Innenarchitektur rückt das Thema Farbe in dieser Rubrik in den Gestaltungsfokus und hebt die Macht der Farbe auf eine höhere Ebene.

 
Beschreibung von Farbkonzepten

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In der Beschreibung von Räumen werden ihre Farbkonzeptionen deutlich und zur Inspiration für eigene Planungskonzepte.

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