Dieser Artikel erschien in der MarktImpulse 3/20
Titel-Illustration: shutterstock.com (Ardea-studio)
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Über 40 Millionen Menschen leben in Deutschlands ländlichen Regionen, die 90 Prozent der Fläche des Landes ausmachen. Und die meisten von ihnen fühlen sich dort sehr wohl. Einige fühlen sich aber auch alleingelassen. Warum, weiß Gerhard Henkel, der in den Medien als der "deutsche Dorfpapst" gilt. Ein Interview über Krise und Chance auf dem Dorf.
Frage: Herr Henkel, herrscht bei uns Landlust oder Landfrust?
Gerhard Henkel: Beides ist ein Thema. Das läuft im Grunde parallel ab. Landlust empfinden viele Menschen, weil sie das naturnahe und überschaubare Landleben genießen und gerade in Globalisierungszeiten als eine Basisstation zum Auftanken benutzen. Auch Großstädter ziehen mit ihren Familien gern aufs Land. Die Zufriedenheit und das Wohlbefinden dort sind laut aktuellen Studien auf einem höheren Niveau. Zudem herrscht ein relativ großer Wohlstand: Gründe dafür sind die Eigenheimquote von über 80 Prozent und das sogenannte informelle Wirtschaften, das ständige Geben und Nehmen in der Nachbarschafts- und Verwandtschaftshilfe.
Frage: Das klingt erst mal nur positiv …
Gerhard Henkel: Ist es auch. In Umfragen wird immer wieder festgestellt, dass die Bewohner ihr Dorf mehr schätzen als die Großstädter ihre Stadt. Aber es gibt auch viele Menschen auf dem Land, die deutlichen Frust verspüren. Sie sehen, dass in den vergangenen Jahrzehnten die gewohnte Infrastruktur, wie Schule, Einkaufsstätte, Gasthof und Bäcker, verschwunden ist. Viele Dorfbewohner wandern ab, vor allem die Jungen: um zu studieren oder weil die Verkehrsanbindung mit Schnellstraßen oder S-Bahnen zu schlecht ist oder keine qualifizierten Arbeitsplätze vorhanden sind. Viele dieser Abwanderer kommen nicht zurück. Und wer zurückbleibt, fühlt sich häufig abgehängt und resigniert. Dieser Teufelskreis von realen Verlusten und schlechter Stimmung muss durchbrochen werden. Die Jungen auf dem Land sind heutzutage natürlich bestens ausgebildet und weltoffen. Deshalb zieht es sie oft in die Stadt, wo sie beruflich mehr Möglichkeiten haben. Sie lieben jedoch ihr Heimatdorf, und es kommt immer häufiger vor, dass sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder zurückkommen. Das belebt ein Dorf und macht es wiederum attraktiver für weitere Zuzüge.
Frage: Welche Infrastruktur braucht ein Dorf?
Gerhard Henkel: Das hängt natürlich von der Größe ab. Von außen betrachtet sollte zum Beispiel ein 1.500-Einwohner-Dorf möglichst einen Laden und einen Gasthof oder einen anderen Treffpunkt haben, der regelmäßig für alle geöffnet ist. Eine Schule und eine Kita, dazu Vereine wie Feuerwehr, Sportverein, Musikverein sowie (in größeren Dörfern) weitere Kultur- und Sozialvereine, nicht zuletzt einen mit Kompetenzen ausgestatteten Bürgermeister und eine ansprechbare Kirche. Und selbstverständlich schnelles Internet und öffentliche Verkehrsmittel. Bei der Entwicklung des öffentlichen Nahverkehrs hat sich die Schweiz z. B. mit Weitsicht hervorgetan und viele Strecken ausgebaut, während das regionale Netz in Deutschland ganz rabiat zurückgeschnitten wurde. Neben dieser Infrastruktur braucht es noch etwas sehr Wichtiges: Gestaltungsfreiheit mit eigenem Bürgermeister! Fehlt das, stagniert die Weiterentwicklung.
Frage: Was sind die Hauptprobleme für fehlende Landentwicklung?
Gerhard Henkel: Immer mehr Landgemeinden und Dörfer verfügen infolge der zahlreichen Eingemeindungen durch Gebietsreformen mittlerweile über zu wenige Möglichkeiten der freien Gestaltung und Entscheidung. Bewährte lokale Selbstverantwortung, mit eigenem Bürgermeister und Gemeinderat, wurde in über 20.000 Dörfern in Deutschland "abgeschafft". Es wurden hier bereits über 300.000 ehrenamtlich tätige Kommunalpolitiker "entlassen". In Österreich sind diese Gemeindeauflösungen in ähnlicher Weise passiert und auch die Kirchen machen es ähnlich mit Pfarreiauflösungen. Das signalisiert den Dorfbewohnern: Euer Wissen, eure lokale Kompetenz, euer Denken, Fühlen und Handeln wird nicht mehr gebraucht. So werden die Kraft und Anpackkultur des Dorfes, seiner Bürger und Kommunalpolitiker, nicht mehr genutzt. In der Schweiz hingegen wird die Selbstverantwortung besonders wertgeschätzt, weswegen hier viele kleine Orte nach wie vor selbstständig sind.
Frage: Dieser Rückbau der Selbstverantwortung, wie Sie ihn für Österreich und Deutschland beschreiben, klingt unlogisch: Schließlich wissen die Bewohner am besten um ihre Bedürfnisse.
Gerhard Henkel: Ja, durch Langzeitstudien wissen wir, dass selbstständig gebliebene 1.000-Einwohner-Dörfer sich in ihrer Bevölkerungs-, Infrastruktur- und Immobilienentwicklung besser entwickelt haben als gleichgroße eingemeindete Dörfer. Die Lösung: Der Staat muss seine demokratische Basis in den Dörfern wieder reaktivieren und mit Leben füllen. Generell sollte der Staat in Gestalt von Bund und Ländern die fortgesetzte Entmündigung der Kommunalpolitik auf dem Land beenden und ihr mehr Unterstützung und Befugnisse geben. Das würde das geschwundene Ansehen der Kommunalpolitik bessern und dann würden auch die Bürger wieder mitmachen.
Frage: Ist das Dorf denn vom Aussterben bedroht?
Gerhard Henkel: Das Dorf ist nicht tot und es wird auch nicht sterben. Das Dorf ist auch keineswegs das Armenhaus der Nation. Hier sitzen die meisten Weltmarktführer, die sogenannten Hidden Champions, in Deutschland. Das Dorf ist genauso wichtig für Staat und Gesellschaft wie die Großstadt. Es bietet eine alternative Lebensform, die von den Menschen geliebt wird, die durch Natur und Menschennähe, durch vor- und fürsorgendes Denken und Handeln geprägt ist.
Gerhard Henkel, 76, befasst sich seit Jahrzehnten mit der historischen und aktuellen Entwicklung des ländlichen Raums. Der Professor für Humangeographie der Universität Duisburg-Essen schrieb zahlreiche Bücher über das Landleben, mit denen er auf die Wertigkeit von Land und Dorf aufmerksam machen will.
Seine Zukunftsvision für die Rettung des Dorfs ist: eine Bundesagentur für das Landleben nach englischem Vorbild: "Sie könnte ein politisches Kraft- und Informationszentrum für das Land werden. Sie könnte nicht nur Menschen, die Lust aufs Land haben, informieren. Sie könnte auch bestehenden Dörfern Schützenhilfe und Ideen für ihren Fortbestand geben und so Architekten, Gewerbetreibende und junge wie alte Menschen mit Plänen und Angeboten für das Land begeistern."
Nähe und Gemeinschaft bilden auf dem Dorf die Basis. Netzwerke und Kooperationen mit anderen Unternehmen und Kontakte zu Kunden können leichter zu finden sein, weil eine starke Mentalität, sich untereinander zu helfen, herrscht.
In Großstädten fallen die Mieten wesentlich teurer aus als in den ländlichen Gebieten. In Hamburg oder München würde sich eine weitere Halle oder ein großzügiges Lager wegen der immensen Mietkosten nicht rechnen. Auf dem Land sind passende Räumlichkeiten häufiger zu finden.
In ländlichen Gebieten ist Gründern und pfiffigen Unternehmern mit guten Ideen die Aufmerksamkeit der regionalen Medien sicher. Lokalzeitungen, Radiosender und Intertenetplattformen sind über lokale Geschichten über Gründung oder Nachwuchswerbung dankbar und berichten oft nicht nur ausführlich, sondern auch regelmäßig.
Zwischen Großstädten und den ländlichen Gebieten besteht ein Lohngefälle, von dem junge Gründer profitieren können. Einen weiteren Vorteil bietet, neben den geringeren Personalkosten, der Gewerbesteuersatz: Der kann auf dem Land bis zu ein Drittel günstiger sein.
Seit 1. Januar 2020 gibt es ein gesamtdeutsches Fördersystem (www.bmwi.de) für strukturschwache Regionen, das bislang auf Ostdeutschland beschränkt war. Zudem existieren Fördermitteltöpfe wie Kohäsionsfonds (KF), Europäische Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) und Europäische Sozialfonds (ESF), die auch in Österreich abgerufen werden können. Mittels dieser Gelder sollen innovative Strategien zur Stärkung dieser Regionen entwickelt werden. Auch die Schweiz unterstützt die Wirtschaft im ländlichen Raum mit entsprechender Förderung und u. a. Steuererleichterungen.
Ortsansässige Unternehmen als regionale Arbeitgeber besitzen auf dem Land einen hohen Stellenwert. Das Team stammt häufig aus der Umgebung, was den Kundenkontakt vor Ort erleichtert und den Zusammenhalt intern stärkt. Ein familiäres Umfeld ist hier keine Floskel aus der Stellenbeschreibung.