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Ein neudeutscher Begriff bereichert die Architekturszene, findet Befürworter und Enthusiasten, Kritiker und Skeptiker. Biophilic Design steht für die Naturbelassenheit in der Architektur, die Verknüpfung von Außen und Innen, die Versöhnung von Grün und Glas.
Ist das mehr als ein Trend?
Alles begann mit Henry David Thoreau. Um genauer zu sein, mit dessen Freund Ralph Waldo Emerson, einem Naturphilosophen in der Nachfolge von Jean Jacques Rousseau. Der schwärmte vom naturnahen Leben, von der menschlichen Gesundheit inmitten blühender Natur, vom freien Leben inmitten der Wildnis.
Thoreau setzte die Theorie in die Praxis um und baute sich eine Blockhütte am Ufer des Walden Bound, einem See in den tiefen Wäldern von Massachusetts. Nach zwei Jahren und um einige Erkenntnisse reicher, schrieb Thoreau ein Buch über seine Erfahrungen, bis heute ein Bestseller für Schwärmer, Spinner, Sonderlinge: "Walden oder Leben in den Wäldern".
1854 erschienen, wirkte diese Aussteigeridylle vom Erscheinen bis zu den Beatniks und Blumenkindern in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts.
Aktuell besinnen sich zeitgenössische Gestalter auf das Primat der Natur über die Architektur. Das Zauberwort heißt: Biophilic Design. Auch dieser Begriff geht auf einen Schriftsteller zurück, den deutschen Philosophen Erich Fromm. Leicht tautologisch kann Biophilie übersetzt werden mit: Die Liebe zum Leben(digen).
Um den kritischen Bedürfnissen einer nachhaltigen Zukunft gerecht zu werden, entwickelt terrapin bright green neue Ansätze. Die Institution setzt sich für die Wiederverbindung der Menschen mit der Umwelt zu einer gesunden und regenerativen Zukunft ein. Die 14 Gebote enthalten die Leitsätze ihrer biophilen Gestaltung:
Was heute Studien beweisen, wusste man im 19. Jahrhundert intuitiv. Mit der industriellen Revolution, mit der Molochisierung der Städte entstand das Bedürfnis, Grün ins Grau zu holen, atmende Lungen den Dampfmaschinen und Gießereien an die Seite zu stellen. Der Central Park in New York und der Englische Garten in München sind nur zwei Beispiele, pseudoparadiesische Grünanlagen in vermauerte Grauzonen zu integrieren. Ihre gewollte Natürlichkeit, ihre gartenarchitektonische Plangestalt suggerieren Natur, wo Kultur am Werke ist.
Dass sich aktuell die Anwendung des Biophilic Design primär in der Arbeitswelt abspielt, hat gute Gründe: Weltweit arbeiten über die Hälfte aller Büroangestellten ohne natürliches Tageslicht am Arbeitsplatz, viele Büros haben weniger Quadratmeter als die vorgeschriebene Fläche für Einzelzellen in einer deutschen JVA. Auch in Großraumbüros sind die Effizienz, die Konzentration und die Kreativität eher unterbelichtet. Immer mehr Studien belegen den Wohlfühlfaktor von Biophilic Design. Sie behaupten, dass Kinder in biophil gestalteten Schulen besser lernen, Kranke in biophil gebauten Hospitälern schneller gesunden und Angestellte in biophilen Büros effizienter arbeiten.
Lassen sich diese Studien in der Realität überprüfen? Wir fragten zehn Architekten aus ganz Deutschland und keiner kannte den Begriff, jeder kannte aber nach Aufklärung mindestens ein Beispiel für biophiles Bauen in seiner Umgebung. Eine Künstlersiedlung bei Bremen, ein Einfamilienhaus in Gelsenkirchen, eine Werbeagentur in Köln. Dort ist der Konferenzraum mit Birkenstämmen vom Boden bis zur Decke gestaltet, die Angestellten sitzen bei Meetings auf Baumstümpfen, der Tisch ist eine kaum behandelte Holzplatte. Angeblich dauern die Konferenzen jetzt eher zwanzig Minuten als eine Stunde, die Ergebnisse sind kreativer. Ob die Wirkung durch die hölzerne Einrichtung oder homöopathische Einbildung erzielt wird, ist für das Resultat egal. Fest steht: Ein Architekt, der nach den Prinzipien des Biophilic Design baut, kann seinen Entwurf mit dem Effekt erklären und sein Wissen mit Wissenschaft begründen.
Einige Firmen setzen dieses Wohlfühl-Konzept zugunsten ihrer Mitarbeiter-/innen um, sie begrünen die Büroräume, lassen Wasser gläserne Wände herunterlaufen. Sogenannte Klimawände dienen der Luftbefeuchtung und Klimaoptimierung, absorbieren aber auch Pollen und Schadstoffe. Gerade Allergiker wissen das zu schätzen. Die Folge: Mitarbeiter genießen den innovativen Arbeitsplatz und sind deutlich seltener krank. Neben der betrieblichen Gesundheitsvorsorge ist der Fachkräftemangel ein wesentlicher Treiber hin zum Biophilic Design. Wer sich acht Stunden am Tag in seiner Umgebung wirklich wohlfühlt, arbeitet gern – motiviert und effizient. Das haben große Firmen wie BMW, Google und Apple schon erkannt und ihre Arbeitswelt entsprechend umgestaltet. Die Durchsetzung des Designs im Bestand ist sehr viel schwieriger als beim biophil geplanten Neubau, die Primel auf der Fensterbank schafft noch kein Naturerlebnis, das begrünte Dach ist noch lange keine Wohlfühloase.
Fünf Faktoren entscheiden über den Grad des Biophilic Design, den ein Bauwerk erreicht. Sie können ganz unterschiedlich umgesetzt sein und sollten idealerweise miteinander verbunden sein.
Diese Dimensionen eignen sich als "Quick Check" für das "Biophilic Level" einer Immobilie, zur Schnelldiagnose für den praktizierenden Architekten. Für die Implementierung und die Integration von Gesundheits- und Naturaspekten in die architektonische Praxis haben die Umweltstrategen und Architekten von Terrapin Bright Green 14 Grundmuster entwickelt, denen biophiles Design folgt. Sie geben Hilfestellung von der abstrakten Idee bis zur konkreten Umsetzung, vom Möbelmaterial bis zur Raumwirkung, vom Lichtspiel bis zur Geräuschkulisse. Für diesen Beitrag haben wir diese 14 goldenen Regeln für grünes Design erstmalig ins Deutsche übersetzt.
Als Beispiele für biophile Ensembles erwähnen die Vertreter dieser Ästhetik bevorzugt spirituelle Anlagen wie die Vatikanischen Gärten oder die Alhambra in Granada.
Moderne Beispiele sind die Pulitzer Foundation in St. Louis, erbaut von Tadao Ando, und das Denver Art Museum von Daniel Libeskind, auch die neue Therme in Bukarest. Natürlich sind das Repräsentationsbauten, die dem Betrachter aber eher offenstehen als die Headquarters von Google und Apple.
Ob diese Liebe zum Lebendigen dauerhaft Bestand hat, wird sich zeigen. Die Forschung nimmt Fahrt auf, und für Architekten lohnt es sich einzusteigen. Denn vieles spricht dafür, dass Biophilic Design mehr Tendenz als Trend ist, langfristig Thema und nicht nur schnöde Theorie bleiben wird.
Und was sagt der Urvater der Bewegung dazu? Henry David Thoreau beendet sein Hauptwerk kryptisch, aber hoffnungsvoll. Die letzten Sätze: "Das Licht, das uns die Augen blendet, ist Dunkelheit für uns. Nur der Tag dämmert, zu dem wir erwacht sind. Noch mancher Tag wird heraufdämmern: Die Sonne ist nur ein Morgenstern."