Titelfoto: HEJM Foto – Langenheim GbR
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Genauso vielfältig, wie Kinder sind, lassen sich auch ihre Räume zum Spielen, Lernen und Toben gestalten. Wichtig ist dabei, die Welt durch die Augen der Kinder zu begreifen und ihre unterschiedlichen Entwicklungsphasen zu berücksichtigen. Ein echter Mehrwert entsteht, wenn Kinder in den Gestaltungsprozess mit einbezogen werden können. Das schafft Räume für entdeckungsfreudige Abenteurer.
Alle Kinder sind verschieden, ihre Bedürfnisse unterscheiden sich ebenfalls. Diese Projekte aus Berlin, Tel Aviv, Norfolk und Kopenhagen zeigen inspirierende Räume, die Kinder in ihrer individuellen Entwicklung und Selbstständigkeit unterstützen und zur Bewegung, Begegnung, Kommunikation und Interaktion anregen. Architektur und Farbe spielen dabei eine bedeutende Rolle.
Krippe, Kita, Grundschule: Kinder sind Zukunft, die Gesellschaft von morgen. Wie und wo sie aufwachsen, bestimmt ihre Entwicklung. Die Konzepte der Pädagogik und ihr Verhältnis zu Architektur und Raum haben sich innerhalb der vergangenen zwei Jahrhunderte grundlegend verbessert: Dienten die ersten Tageseinrichtungen noch als reine "Aufbewahrungsanstalten kleiner Kinder" zur Entlastung während der Erntezeit, orientierte sich das pädagogische Konzept von Friedrich Fröbel Mitte des 19. Jahrhunderts erstmalig an den Bedürfnissen der Kinder. Diese sollten sich durch das Spielen die Welt aneignen, so der "Vater des Kindergartens".
Der italienische Pädagoge Loris Malaguzzi verstand den Raum als "dritten Erzieher", worauf er in den 1960er-Jahren sein Konzept der Reggio-Pädagogik aufbaut. Ähnlich wie Maria Montessori betrachtet die Reggio-Pädagogik das Kind als Konstrukteur seiner Entwicklung, seines Wissens und Könnens. Der dänische Familientherapeut Jasper Juul ging noch einen Schritt weiter und definierte das "kompetente Kind". Seinem Verständnis nach brauchen Kinder weder Erziehung noch Grenzen, ihre Bedürfnisse sind: Beziehungen.
Berlin: Farbinseln im Weltenbummler
Ob Montessori, Fröbel oder Juul: Für die Berliner Architekten und Gestalter von Baukind stehen neben einem ganzheitlich gedachten Ansatz der kindgerechte Raum und eine Gestaltung auf Augenhöhe im Zentrum ihrer Arbeit. In seinen Entwürfen übersetzt das interdisziplinäre Team dabei pädagogische Ansätze in ein architektonisches Konzept. "Wir gestalten Räume, an denen Kinder wachsen", fasst Nathalie Dziobek-Bepler ihre Grundhaltung zusammen.
Als die Architektin 2010 ihr erstes Kitaprojekt plant, eine kleinere Anfrage aus dem persönlichen Umfeld, stehen Räume für Kinder noch im Schatten klassischer Bauaufgaben. Zehn Jahre später hat das Büro mit mehr als 100 Projekten wie Kitas, Kinderarztpraxen und Schulen dem Thema zu wachsender Relevanz verholfen. Neu im Portfolio: die Kita Weltenbummler für den gemeinnützigen Verein bik, die 2019 in Betrieb genommen wurde.
"Der Grundriss der Kita Weltenbummler erinnert an eine Landkarte", erzählt Nathalie Dziobek- Bepler. Monochrome Ecken im Gelb-Rot-Orange- Spektrum und im Blau-Grün-Spektrum zonieren die offenen Räume in beiden Etagen, wobei sich jede Gruppe ihrer eigenen Farbinsel zuordnet. Das pädagogische Konzept sieht vor, dass die altershomogenen Gruppen jedes Jahr einen Raum und eine Farbe weiterwandern. Im Erdgeschoss dominieren warme Erdtöne für die jüngeren Kinder unter vier Jahren. In den Räumen der Vier- bis Sechsjährigen im Obergeschoss sind die Farben heller und luftiger. Jede Farbinsel ist dem Alter der Kinder entsprechend mit passenden Spiel- und Lernangeboten ausgestattet – farbige Podeste, Höhlen und Nischen wollen dabei erlebt und entdeckt werden. Weil die Bäder von allen Kita-Kindern einer Etage zusammen genutzt werden, mischen sich dort die drei Farben des jeweiligen Spektrums zu einem Regenbogen.
"Wir kennen die Aspekte der Farbpsychologie und glauben an die Kraft und Wirkung von Farben. Während Blau- und Grüntöne eher beruhigen, können die Töne des Rotspektrums eher anregen", sagt die Berliner Architektin. "Weil sich Kinder eher als die Erwachsenen in Bodennähe aufhalten, setzen wir besonders im Krippenbereich Bodenfarben nur sehr sparsam ein. Krabbelnde Kinder wären der Farbe permanent ausgeliefert." Da alle Gruppenräume und Grundelemente eher dezent und neutral gehalten sind, kann es in den Fluren, Treppenhäusern und Bädern zu einem stärkeren Farbeinsatz kommen. Wichtig sei dabei stets ein abgestimmtes Farbkonzept für das gesamte Gebäude. "Ich denke schon, dass Kinder Farbe mögen, aber man muss differenzieren und wohl dosieren", meint die baukind-Gründerin. Die Gleichung "Je farbenfroher, desto kindgerechter ein Raum" gilt schon lange nicht mehr.
Tel Aviv: Out of the box
Der Einsatz von Farbe hängt stark vom Ort und seiner Nutzung ab, davon sind auch Ayelet Fisher und Chen Steinberg Navon überzeugt. „Wir lieben Farbe wirklich sehr“, bekennt Steinberg. Und dennoch verstehen die beiden Architektinnen Raum und Farbe als eine bewusst ausgeglichene Kombination. „Wenn wir ein Klassenzimmer gestalten, wählen wir hauptsächlich natürliche Materialien, damit die Schüler sich auf den Unterricht konzentrieren können und sie von nichts abgelenkt werden“, so die Architektin. Zugleich ergänzt sie, dass die Kinder selbst schon viel Farbe mit- und einbringen: durch ihre Kleidung, ihre Rucksäcke, mit ihren Bildern an der Wand.
Dass für den Umbau und die Sanierung der Hayraden School in Tel Aviv auffällig viele verschiedene Farben eingesetzt werden, liegt an der besonderen Herkunft der Schüler: Die Grundschule für Geflüchtete versammelt Kinder aus etwa 25 Ländern – die meisten stammen aus Afrika. Um ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit zu schaffen, begrüßen die Schüler seit 2018 die Farben all ihrer Länderflaggen in dem 60er- Jahre-Bau. Deren Reaktion ist und bleibt pure Begeisterung. „Als die Kinder zum ersten Mal nach den Umbau- und Sanierungsmaßnahmen wieder in die Schule kamen, haben sie ihre Schule kaum wiedererkannt“, erinnert sich Chen Steinberg Navon. „Sie haben vermutlich zum ersten Mal erfahren, dass sie jemand von außen sieht. Die Kinder fühlen, dass sie einen Ort für sich haben, und sind stolz, Teil der Schule zu sein.“ Farben können nicht nur Bereiche betonen und hervorheben, sie können trennen und verbinden.
Das junge Studio STEINBERG // FISHER transportiert sein architektonisches Konzept „out of the box“ in die Realität und setzt damit neue Impulse. Die Lehrer haben nun die räumlichen Möglichkeiten bekommen, auch außerhalb der Klassenräume zu unterrichten – „eine Freiheit, die sie sehr zu schätzen wissen“, berichtet die israelische Architektin. Aus diesem Grund haben sich auch die Erschließungsräume dank einer detaillierten und farbenfrohen Neugestaltung in dynamische, kollaborative und alternative Lernorte verwandelt. Zeitgemäße Methoden für sogenanntes Offenes Lernen basieren auf Kreativität und dem Denken abseits üblicher Begrenzungen.
Schutz und Rückzugsraum bieten die aneinandergereihten, hausförmigen Pavillons in der Schullobby – für die das Studio Sarit Shani Hay verantwortlich zeichnet. „Eine Lernumgebung sollte für Kinder voller Spaß und voller Möglichkeiten sein“, finden Chen Steinberg Navon und Ayelet Fisher. „Wir versuchen, Räume zu gestalten, die Kinder immer wieder auf neue Art nutzen und sich aneignen können.“
Norfolk: Freespace
Der neue Verbindungsbau der Wroughton Academies im britischen Gorleston, Norfolk, ist aus einem partizipativen Entwurfsprozess hervorgegangen. Die Londoner Architekten David Knight und Cristina Monteiro vom Studio DK-CM haben den Pavillon mit den Schülern in gemeinsamen Workshops entwickelt. "Zwischen Grund- und Vorschule sollte ein Eingangsgebäude entstehen – im Grunde eine Art Brücke", sagt Knight.
Weil die Proportionen durch die Baulücke bereits vordefiniert wurden, waren Kubatur und Grundrissfläche des eingeschossigen Verbindungsbaus fixiert. So ergab sich die ungewöhnliche Ausgangssituation, über mehr Platz zu verfügen, als für das Raumprogramm nötig war. "Wir hatten also die glückliche Möglichkeit, mehr aus dem Neubau zu machen", erzählt der junge Architekt.
Um herauszufinden, welche Nutzungen der Pavillon aufnehmen könnte, haben DK-CM in lebhaften Schauspiel-Workshops mit den Grund- und Vorschülern alle denkbaren Aktivitäten durchgespielt. "Wir taten so, als wäre es ein Auditorium oder ein Wald, ein Atelier oder ein Museum, ein Klassenzimmer oder ein Labor", erinnert sich Cristina Monteiro. Das Modell fertigten die Architekten intuitiv an, konventionelle Pläne zeichneten sie erst später. "Wir lassen Dinge passieren, beobachten die Kinder." Grundlegender Gedanke war die Schaffung eines gemeinsamen Sozialraums für beide Schulen.
Die Fundamente für die Leichtbaukonstruktion wurden in den Ferien gegossen, gebaut wurde im laufenden Betrieb. Vorteile der vorfabrizierten CLT-Konstruktion sind der minimale Materialeinsatz und die schnelle Bauweise. Der Holzbau verbindet den 1950er-Jahre-Bau der Grundschule mit der Vorschule aus den 1990er-Jahren, Bauherr ist das gemeinnützige Netzwerk Creative Education Trust. Weil den Architekten eine ablesbare, nachvollziehbare, klare Konstruktion wichtig ist, blieb das Tragwerk unverkleidet. Die Schüler sollen verstehen, wie es funktioniert. „Vielleicht inspiriert es einige, später selbst Architekt zu werden“, überlegt Monteiro. Die Holzmöbel organisieren den Raum und sind Sonderanfertigungen nach Entwürfen der Architekten.
Der Innenraum verbreitet eine warme Atmosphäre, in der sich alle wohlfühlen sollen. Holz ist komfortabel, es riecht gut und es sorgt für eine gute Raumakustik, begründen DK-CM ihre Materialwahl. "Dass wir beim Pavillon die natürliche Holzoberfläche belassen haben, ist ein wichtiges Pendant zum zweifarbigen Linoleum", erklären die Architekten. So bleibe der Raum ausgeglichen. Am Boden dominiert das zweifarbige Dreiecksmuster, bei dem ein warmes Hellgrau mit einem satten Kanariengelb korreliert. Ein ähnliches Diagrid findet sich in der Holzkonstruktion an der Decke wieder.
Die Inspiration kam von der Auftraggeberin selbst, die gerne Wandteppiche und Decken quiltet. Als von einem der Quilt-Workshops große, bunte Dreiecke im Raum liegen bleiben, greift das Architektenduo die Geometrie für den Boden und das Dachtragwerk auf. Bis die Farben ausgesucht waren, wurden viele Kombinationen ausprobiert.
Die Architekten sind dankbar für diese enge Kooperation mit der Bauherrin. Ihr Verhältnis zur Farbe beschreibt Cristina Monteiro als angespannt, dennoch verstehen sie Farbe als wirkungsvolles Element. In Lernräumen kann mit Farben eine positive Umgebung entstehen. Für Cristina Monteiro und David Knight bedeutet Farbe immer auch ein gewisses Risiko – "es braucht das richtige Maß".
Kopenhagen: Gesamtkunstwerk aus Stahl, Gummi und Asphalt
Monochrom gehalten ist der Dachspielplatz auf einem Parkhaus im Kopenhagener Nordhavn von JAJA Architects. An der Fassade entlang schwingt sich ein signalroter Draht nach oben hinauf aufs Dach und wird schließlich zu einer rot leuchtenden Kletterspirale – die gleichzeitig auch die Stahlkonstruktion für das Gerüst von Schaukeln bildet. Die Böden führen die Farbgebung dieses roten Fadens abgetönt weiter: Tomatenroter Tartan wechselt sich mit einer rotaschigen Asphaltoberfläche und rostroten Elementen ab. Es ist ein dynamischer, urbaner Ort für alle Altersgruppen, ein Spiel-, Sport- und Parcoursplatz in 25 m Höhe – inspiriert von den roten Ziegelbauten im Hafenquartier.
"Grundsätzlich versuchen wir Spielelemente so in Räume zu integrieren, dass sie mehr als ein platziertes Produkt aus einem Katalog sind, sondern im Dialog mit dem Landschaftskonzept stehen", erklärt die Projektarchitektin Kathrin Gimmel die Herangehensweise von JAJA Architects. Außerdem sollten sich in dem öffentlichen Raum auf dem Parkhausdach keine eindeutigen Zonen zum Trainieren oder Spielen bilden. "Die Idee ist, dass Kinder und Erwachsene ihre eigene Kreativität fließen lassen können."
Der weite Blick über den Hafen von Kopenhagen lockt die gesamte Stadt an. Sollte der Platz ursprünglich für die Anwohner dienen, frequentieren ihn auch Besucher aus anderen Vierteln, die auf das Parking House Lüders pilgern, um dort zu spielen und zu trainieren. "Wir sind schon erstaunt, wie oft der Platz genutzt wird, auch bei schlechtem Wetter", freut sich Gimmel. Man müsse jedoch bedenken, dass Dänemark sehr flach ist. Hochpunkte sind eine Seltenheit. Dass auf dem Dach des Parkhauses ein öffentlich zugänglicher Stadtraum entstehen sollte, war Vorgabe des Bauherrn. Weil das Quartier zum Großteil bereits bebaut war, ergab sich die Notwendigkeit, das Dach des Parkhausneubaus zu bespielen.
Für die Architekten bedeutet die freie Planungsaufgabe eine Herausforderung. Weil eine spezielle Richtlinie für Spielplätze auf dem Dach fehlt, mussten sie jedes einzelne Detail wie zum Beispiel die Höhe des Geländers mit der Stadt und mit dem Bauherrn besprechen, um sich auf jeweils passende Lösungen zu einigen. Gleichzeitig muss das Parkhaus den europäischen Normen für Spielplätze entsprechen. Alle Elemente für Spiel und Bewegung basieren auf Entwürfen der Architekten. Die rote Kletterspirale stellte als TÜV-zertifizierte Konstruktion zwar das komplizierteste Werk dar, die Mühe hat sich aber ausgezahlt. Heute wird die JAJA Architects-Kletterspirale von der Berliner Seilfabrik sogar als Standardprodukt hergestellt.
Das dänische Studio denkt seine Projekte immer im Kontext. Im Norden von Dänemark bauen JAJA Architects aktuell einen Schulneubau, um den ein Wald gepflanzt werden soll. "Dort arbeiten wir mit natürlichen Oberflächen. Um die Spielelemente zwischen den Bäumen zu integrieren, wäre ein Rot hier sicher falsch", findet Kathrin Gimmel. In Kopenhagen passt die rote Farbe so gut, weil der warme Ton den windigen, eher kalten Dachspielplatz wärmer wirken lässt, als er tatsächlich ist, und er den Farbton der umliegenden roten Backsteingebäude weiterführt.
Architektur kann für die Fragen nach einer kindgerechten sowie entwicklungsfördernden Raumgestaltung immer wieder neue Lösungsansätze finden: in Form von wegweisenden Lernlandschaften, fröhlichen Farbinseln und anregenden Frei-, Bewegungs- und Möglichkeitsräumen. Kinder erobern diese Orte – und füllen sie zusammen mit den Pädagogen mit Leben. David Knight weiß: "Farbe darf nicht dogmatisch sein."